Читать книгу Atemlose Spannung für den Urlaub: Vier Krimis: Krimi Quartett онлайн
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© Roman by Author /COVER STEVE MAYER
© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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1
“Wofür steht eigentlich das G. in >Friedrich G. Förnheim”, fragte die Frau. Sie war Staatsanwältin. Noch sehr jung - und sehr ehrgeizig.
Aber das würde sich bald ändern.
Förnheim hatte sie zum Essen eingeladen.
“Das G. steht für >Genie<”, sagte Förnheim.
“Mit Bescheidenheit haben Sie es nicht so, was?”, lächelte sie.
“Wieso sollte ich? Ich bin ein Genie.”
“Das hat nie jemand angezweifelt - und ich schon gar nicht”, sagte sie. “Sie genießen einen legendären Ruf als Forensiker. Mehrere akademische Grade in unterschiedlichen Naturwissenschaften... Unglaublich gute Tatort-Analysen... Und so weiter und so fort. Ich glaube, wenn irgendwo in Deutschland ein Ermittler oder ein Staatsanwalt nicht weiter weiß, dann sind Sie die letzte Hoffnung.”
“Ich weiß”, sagte Förnheim. “Leider verlassen sich allzuviele Ermittler und Staatsanwälte nach wie vor lieber auf ihre eigenen mangelhaften Instinkte, anstatt auf meine Expertise.”
“Darf ich Sie Friedrich nennen. Herr Kollege?”
“Nein, das dürfen Sie nicht. Und auch wenn ich es normalerweise als Kompliment ansehen würde, wenn Juristen mich als Kollegen bezeichnen (das tun sie nämlich für gewöhnlich nur unter ihresgleichen), so lege ich in Ihrem Fall keinen Wert auf eine zu große sprachliche Nähe.”
“Nun, ich bin... etwas irritiert...”
“Wenn meine Bemerkung etwas feindselig geklungen haben sollte, dann ist das durchaus zutreffend.”
“Wie?”
“Ich mag Sie nämlich nicht. Sie verkörpern das, was ich ablehne: Selbstgerechtigkeit und eine Gleichgültigkeit dem Recht gegenüber, die für Ihren Berufsstand eine Schande ist.”
Sie sah ihn erstaunt an. “Wieso haben Sie mich zum Essen eingeladen, wenn Sie mich nicht leiden können?”
“Dazu kommen wir noch. Lassen Sie es sich bis dahin weiter schmecken. Und trinken Sie Ihr Glas leer! Dass ich nicht mit Ihnen angestoßen habe, bitte ich zu entschuldigen, aber es hat seine Gründe.”
“Sie haben mich in dieses teure Restaurant eingeladen, um mich zu beschimpfen? Ich dachte... Ist auch egal!”
“Sie sind eine bestenfalls mittelmäßige Begabung. Aber Sie haben große Pläne und sind sehr ehrgeizig. Mittelmäßig begabte Menschen fühlen sich zu echten Genies mitunter hingezogen und das ist bei Ihnen in Bezug auf mich zweifellos der Fall”, sagte Förnheim. “Deswegen haben Sie sich auch von mir einladen lassen. Verzeihen Sie mir meine Offenheit, aber den Appetit kann ich Ihnen ja nicht mehr verderben. Sie haben ja schon gegessen.”
“Vielleicht sollte ich jetzt einfach gehen...”
“Nein, das sollten Sie nicht. Denn dann erfahren Sie weder, warum ich Sie trotz meiner Abneigung eingeladen habe, noch was in Kürze mit Ihnen passieren wird.”
“Was?”
“Und Sie erfahren nicht, was ich über Sie herausgefunden habe.”
“Hören Sie...”
“Luigi, bringen Sie mir die Flasche?”, rief Förnheim. Der Kellner kam herbei und stellte eine Flasche auf den Tisch. Sie war halb leer. “Danke sehr”, sagte Förnheim.
“Bitte sehr.”
Der Kellner verschwand wieder.
Förnheim deutete auf die Flache. “Da war der Wein drin, den Sie heute getrunken haben. Meinen Hinweis, dass das hier in diesem Lokal mit dem Wein einschenken etwas anders gehandhabt wird, als normalerweise üblich, haben Sie ja klaglos akzeptiert - auch wenn ich Sie, wie ich jetzt zugeben muss, etwas angelogen habe.”
“So?”
“Ich habe Luigi gebeten, den Wein umzufüllen - in diese Flasche. Die Hälfte haben Sie getrunken. Ich trinke ja nur Wasser.”
“Würden Sie mir vielleicht mal erklären, was das alles soll?”
“Sehr gerne. Sie haben sicher bemerkt, dass dies keine Weinflasche ist.”
“Ja, das sieht man auf den ersten Blick.”
“Genau so eine Flasche hat man einem gewissen Mario Rugowski in den Hintern gesteckt. An den Verletzungen ist er gestorben.”
“Jetzt ist Schluss”, sagte sie. “Ich will nichts mehr hören!”
“Ich entnehme Ihrer Reaktion, dass der Name Mario Rugowski Ihnen etwas sagt. Es hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Schließlich haben Sie ihn ja auf dem Gewissen. Und wenn Ihnen die Gerechtigkeit so wichtig wäre, wie Sie immer behaupten, dann müssten Sie eigentlich jeden Tag an ihn denken.”
Sie schluckte. Wurde rot.
Friedrich G. Förnheim lächelte zufrieden.
Und eiskalt.
“Was wollen Sie von mir?”, fragte sie.
“Mit Ihnen über den Fall Rugowski sprechen. Sie haben ihn auf dem Gewissen. Er soll sich an Kindern vergangen und sie umgebracht haben. Sie waren von seiner Schuld überzeugt und haben für seine Verhaftung gesorgt.”
“Die Beweise waren erdrückend.”
“Die Beweise, die Sie gefälscht und manipuliert hatten!”
“Er wäre sonst wieder rausgekommen!”
“Sie haben auch dafür gesorgt, dass seine Mitgefangenen wussten, weswegen er verhaftet worden war. Und Sie haben dafür gesorgt, dass das mit der Einzelhaft organisatorisch nicht so richtig geklappt hat. Sie dachten wohl, Sie bekommen doch noch ein Geständnis...”
“Ach, kommen Sie!”
“Sie wissen, dass es so war. Und ich weiß es auch. Dumm nur, dass die Sache aus dem Ruder lief. Und genauso dumm, dass dieser Mann völlig unschuldig war, wie sich später herausstellte. Er hatte mit den toten Kindern nichts zu tun.”
“Haben Sie sich nie geirrt, Herr Förnheim?”
Er sah sie gerade an. “Nein”, sagte er mit Bestimmtheit. “Und damit das so bleibt, arbeite ich mit höchster Sorgfalt und lasse mich nicht von vorgefassten Meinungen beeinflussen. Ich bin ein Fanatiker der Gerechtigkeit und der Wahrheit.”
Sie lehnte sich zurück.
Ihr Mund verzog sich spöttisch.
“Und was gedenken Sie, jetzt zu tun? Mich anzuzeigen - wegen was auch immer?”
“Nein.”
“Nein?”
“Nein, denn das werden Sie selbst tun.”
“Wie bitte?”
“Wenn die inneren Schmerzen zu groß werden. Dann werden Sie sich selbst anzeigen. Diese inneren Schmerzen werden bei Menschen mit einem Gewissen durch das Gewissen verursacht. Man nennt diese Schmerzen deswegen auch Gewissensqualen. Sie hingegen sind frei davon. Sie haben kein Gewissen. Sie wollten diesen unschuldigen, geistig etwas zurückgebliebenen Mann einfach nur benutzen, um sich selbst beruflich in Szene zu setzen. Daher musste ich in Ihrem Fall etwas nachhelfen, was die inneren Schmerzen angeht.”
“Jetzt wird es wirklich eigenartig, was Sie so reden”, sagte sie. “Wollen Sie mich etwa erpressen?”
“Sehen Sie, diese Aussage von Ihnen zeigt, wie unterschiedlich wir denken. Sie können sich anscheinend gar nicht vorstellen, dass jemand an nichts anderem, als an der Wahrheit und der Gerechtigkeit interessiert sein könnte. Das ist völlig außerhalb Ihrer Vorstellung.” Er deutete auf die Flasche. “Wollen Sie noch einen Schluck aus dieser Flasche?”
“Ich glaube, mir ist der Appetit vergangen.”
“Sehen Sie, wenn ich einem anderen Milieu entstammen würde, dann hätte ich Sie vielleicht entführt, in irgendeine einsame Lagerhalle gebracht, Ihnen eine Pistole vor den Kopf gehalten und Ihnen diese Flasche gegeben und gesagt: Ich will sehen, dass Sie sich diese Flasche so tief reinstecken, wie man es bei Rugowski getan hat. Dann lasse ich Sie vielleicht am Leben!”
“Was Sie sagen, ist pervers!”
“Nicht perverser als das, was Sie getan haben.”
“Ich habe nichts getan!”
“Nein stimmt, Sie haben dafür gesorgt, dass es andere es tun. Sie hätten sich im übrigen die Körperöffnung aussuchen können. Diese Wahl hatte Rugowski nicht.”
“Ich gehe jetzt”, sagte sie. “Das nimmt mir alles jetzt einen zu... eigenartigen Verlauf.“
“Dann wollen Sie gar nicht wissen, für welche Möglichkeit ich mich stattdessen entschieden habe? Denn Sie haben völlig Recht, die Möglichkeit, die ich Ihnen gerade als halbwegs gerechte Alternative geschildert habe, würde nicht meinem Niveau entsprechen. Sie würden auch nicht lange genug leiden. Und davon abgesehen würde ich Sie der Möglichkeit berauben, sich noch selbst anzuzeigen und auf den Weg der Wahrheit und der Gesetzlichkeit zurückzufinden.”
Sie war blass geworden.
“Sie wollen mir drohen?”
“Nein, ich drohe nicht. Ich kündige an, was geschehen wird. Und wenn Sie ein bisschen Verstand haben, dann hören Sie mir bis zum Ende zu. Denn sonst wird, was kommt, Sie unvorbereitet treffen.”
“Ach!”
“Sie haben mich gefragt, was das G. in meinem Namen bedeutet. Ich sagte Ihnen, dass es für >Genie< steht.”
“Sie leiden unter Selbstüberschätzung!”
“Meine naturwissenschaftlichen Fähigkeiten sind Ihnen ja bekannt. Ich habe mir nun für Sie etwas ganz besonders ausgedacht. In dem Wein, den Sie getrunken haben, war ein hochkonzentrierter Wirkstoff, den ich selbst entwickelt habe. Dieser Wirkstoff wird Sie von innen her förmlich zerfressen. Jede Ader, jedes Gefäß, jeden Nerv. Sie werden furchtbare Schmerzen im gesamten Körper haben und es wird Ihnen niemand helfen können, denn man wird keine Ursache dafür finden. Dass man diesen High-Tech-Wirkstoff nicht nachweisen kann, muss ich wohl nicht eigens erwähnen. Ich bin so lange Forensiker... ich kenne alle Tricks.”
“Sie sind wahnsinnig!”
“Vielleicht. Aber Sie werden es! Wahnsinnig werden, meine ich. Mit Sicherheit - vor Schmerz. Ihr Leiden wird sich über Jahre hinziehen, bis es zu einem Multiorganversagen kommt. Aber lange vor diesem Zeitpunkt, werde Sie mich anrufen und mich anflehen, dass ich Ihnen das Gegenmittel gebe, dass die Wirkung neutralisiert. Und vielleicht werde ich das dann tun - vorausgesetzt, Sie haben vorher eine Selbstanzeige abgegeben.”
“Es reicht mir jetzt. Ich gehe. Die Rechnung übernehmen Sie ja wohl...”
“Die Rechnung für das Essen - ja. Die andere kann Ihnen niemand abnehmen.”
Sie erhob sich, nahm ihre Handtasche und hätte dabei aus Versehen fast das Glas vom Tisch gefegt.
“Warten Sie noch!”, sagte Förnheim und hielt seine Karte hin. “Sie werden mich in Kürze anrufen. Da bin ich mir ganz sicher. Deswegen sollten Sie meine Nummer gut aufbewahren!”
Ihre Augen wurden schmal, als sie sagte: “Ich dachte, ich verbringe einen netten Abend mit einem netten, hochintelligenten Kollegen. Stattdessen bin ich auf einen Spinner getroffen!”
“Mein ist die Rache - spricht der Herr!”, sagte Förnheim. “Ist ein Zitat aus einem langjährigen weltweiten Bestseller namens Bibel. Aber um das zu kennen, muss man lesen, werte Frau Staatsanwältin!”
“Sie können mich mal!”
“Bis bald!”
2
Förnheim feuerte eine Waffe ab.
Ballistische Tests gehörten zu seinem Aufgabenbereich. Er nahm den Gehörschutz ab und betrachtete das Ergebnis. Das Projektil war in ein gallertartiges Material eingedrungen, dessen Konsistenz in etwa einem menschlichen Körper entsprach. Sein Handy klingelte.
Förnheim nahm das Gespräch entgegen.
“Ach Sie sind es, Frau Staatsanwältin. Ja, ich habe gehört, dass Sie schon seit geraumer Zeit dienstunfähig sind... Ich kann nicht sagen, dass mir das Leid tut. Jemand wie Sie sollte nicht die Gerechtigkeit vertreten, finde ich. Das Gegenmittel? Ja, haben Sie denn die Selbstanzeige aufgegeben?” Eine Pause entstand. “Gut, ich werde die Kollegen mal fragen, ob das zutrifft. Aber ich muss Ihnen leider eine unangenehme Mitteilung machen: Es gibt kein Gegenmittel. Und wenn ich jetzt auf Wiederhören sage, dann ist das geheuchelt. Zweifellos werden wir nicht noch einmal miteinander telefonieren.”
Friedrich G. Förnheim beendete das Gespräch.
Ein verhaltenes Lächeln erschien für einen kurzen Moment in seinem sonst immer eher etwas angestrengt wirkenden Gesicht.
“Das G. steht auch für Gerechtigkeit”, sagte er halblaut.
3
“Hast du das von der Staatsanwältin gehört?”, fragte Dr. Wildenbacher, seines Zeichens Gerichtsmediziner und Teamkollege von Friedrich G. Förnheim. “Sie hat sich aus dem Fenster gestürzt, nachdem sie eine Selbstanzeige aufgegeben hatte...”
“Ja, der Fall Rugowski...”
“Genau. Sie konnte wohl nicht mit der Schuld leben. Naja, das ist jedenfalls die bisherige Arbeitshypothese.”
“Für die Staatsanwaltschaft ist ihr Tod kein Verlust”, sagte Förnheim. “Im Gegenteil. So ein Charakter hat dort nichts zu suchen. Wir sollten froh sein, dass sie keinen Schaden an der Gerechtigkeit mehr anrichten kann.”
Wildenbacher wirkte perplex.
Er starrte Förnheim verwundert an.
“Und von mir behauptet man immer, ich hätte ein Gemüt wie ein Metzger!”
“Ein Vorurteil, das auf dem Umstand beruht, dass Sie häufigen Umgang mit Leichen haben!”
Wildenbacher nickte. “Und offensichtlich können das nur Leute behaupten, die Sie nicht kennengelernt haben!”
“Wie darf ich das verstehen?”
Wildenbacher machte eine wegwerfende Handbewegung.
“Vergessen Sie es!”
“Ist die Staatsanwältin jetzt bei Ihnen auf dem Tisch?”
“Beim Kollegen.”
“Gut so.”
“Wieso?”
Förnheim zuckte mit den Achseln. “Leichte Fälle sind doch nichts für Sie. Das soll der Nachwuchs machen!”
“Na, wenn der Mann mit dem G. für >Genie< im Namen sowas sagt, muss ja was dran sein.”
“Eben!”
“Hören Sie auf, sonst werde ich noch eingebildet!”
“Da sehe ich keine Gefahr.”
“Na dann...”
Dr. Wildenbacher sah auf die Uhr.
“In Eile?”, fragte Förnheim.
“Ein bisschen. Wissen Sie, was ein Charity Dinner ist?”
“Ich dachte, so etwas gibt es nur in Amerika - oder beim Rotary Club!”
“In diesem Fall ist es ein Bundestagsabgeordneter. Mdb nennen die sich und tragen das mit sich herum wie andere einen Doktortitel.”
“Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.”
“Danke. Aber eine Bratwurst mit Pommes wäre mir lieber als die kulinarisch wertvollen Mini-Portiönchen, die mich da jetzt erwarten!”
4
Der Killer zog seine Waffe hervor.
Blitzschnell.
Eine fließende Bewegung.
Eine kurzläufige Spezialwaffe mit aufgeschraubtem Schalldämpfer und einer sehr leistungsfähigen Zielerfassung. Den Laserpointer hatte er noch nicht aktiviert.
Das kam noch.
Alles zu seiner Zeit.
Der Killer trat an den schweren Vorhang, der die Balustrade des großen Festsaals verhängte.
Tosender Beifall brandete unter den geladenen Gästen auf. Durch den schmalen Spalt hatte der Killer einen freien Blick auf das Geschehen im Saal und auf seine Zielperson.
“Heh, was tun Sie da?”, fragte eine Stimme.
Der Killer wandte den Blick zur Seite. Ein Mann in der hellblauen Uniform des privaten Security Service, den die Veranstalter mit der Sicherung der Veranstaltung betraut hatten, starrte ihn ungläubig an. Erst jetzt, da der Killer sich halb herumgedreht hatte, vermochte er die Waffe in dessen Hand zu sehen - und griff sofort zu seiner Dienstwaffe am Gürtel.
5
Doch der Security-Mann hatte keine Chance. Er war zu langsam. Und die Sekunde, die er gezögert hatte, ehe er seine Waffe zog, kostete ihn jetzt das Leben.
Der Killer zögerte nicht.
Er feuerte. Der Schuss war so gut wie gar nicht zu hören. Die Waffe war schließlich eine Spezialanfertigung, die darauf ausgelegt war, bei maximaler Treffersicherheit und dem höchstmöglichen Zielkomfort auch noch möglichst geräuschlos zu sein.
Der Schuss traf den Wachmann genau in die Herzgegend. Sein hellblaues Hemd verfärbte sich dunkelrot. Die rechte Hand krallte sich noch um den Pistolengriff. Mit einem dumpfen Geräusch fiel er zu Boden.
Unten im Festsaal hatte man davon nichts bemerkt, zumal jetzt erneut Beifall aufbrandete. MdB Johannes E. Moldenburg, direkt gewählter Abgeordneter des deutschen Bundestages, sprach bereits wieder in den noch anhaltenden Applaus hinein. “Die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger ist das höchste Gut”, klang Moldenburgs Stimme durch den Saal. “Und um dieses Gut zu schützen, muss die Regierung dieses Landes entschlossener vorgehen, als sie es bisher getan hat. Wo immer auf der Welt sich Feinde unserer Werteordnung aufhalten und damit beschäftigt sind, terroristische Pläne zu schmieden, sollten wir sie bekämpfen - und nicht erst, wenn sie hier bei uns zuschlagen. Deswegen ist es notwendig, Gesetze zu ändern!”
Der Killer nahm seine Zielperson ins Visier. Den Laserpointer durfte er erst im letzten Moment aktivieren, sonst wurde er bemerkt. Ein Schuss!, dachte er. Maximal zwei. Mehr wird mir nicht bleiben!
Danach brach vermutlich das Chaos aus, und es war nicht mehr daran zu denken, in dem entstehenden Durcheinander eine Person gezielt zu töten.
6
So ein verdammter Labersack!, dachte Dr. Gerold M. Wildenbacher. Mit diesem inhaltsleeren Politiker-Gequatsche könnte man bei ins Bayern ja das gutmütigste Rind verrückt machen!
Der Gerichtsmediziner aus dem Ermittlungsteam Erkennungsdienst der BKA-Akademie von Quardenburg unterdrückte ein Gähnen und zwang sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck, der nicht erkennen ließ, was er von der ganzen Veranstaltung hielt.
Anlässe wie dieses noble Charity-Essen von MdB Johannes E. Moldenburg waren Wildenbacher ein Gräuel. Große Reden, wenig dahinter, so lautete Wildenbachers knappes Resümee. Aber seit der Pathologe für das BKA arbeitete, hatten man ihm stets eingeschärft, immer freundlich zu Politikern zu sein. “Das sind die Männer und Frauen, deren Abstimmungsverhalten darüber entscheidet, wie viel Geld in Zukunft für unsere Arbeit zur Verfügung steht. Also tun wir besser nichts, um ihren Zorn zu erregen!”, hatte einer seiner Vorgesetzten mal zu Wildenbacher gesagt, nachdem der hemdsärmelige Bayer einer Kongressabgeordneten bei einem Besuch von Quardenburg ziemlich unverblümt seine Meinung hatte wissen lassen.
Was diese Charity-Veranstaltung von MdB Moldenburg anging, fiel Wildenbacher dabei sogar eine herausgehobene Rolle zu. Er sollte für besondere Verdienste um das öffentliche Wohl ausgezeichnet werden. Eine wohltätige Stiftung, der der MdB vorstand, hatte Wildenbacher für diese Auszeichnung vorgesehen.
Wildenbacher stand der ganze Sache ambivalent gegenüber. So sehr er einerseits von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt war, so war ihm andererseits jegliche Lobhudelei zuwider. Und er mochte es auch auch nicht, für den Auftritt eines MdBs die Kulisse bieten zu müssen.
Andererseits hatte er sich entschieden, eine gute Miene zu der ganzen Veranstaltung zu machen. Auch wenn es ihm persönlich am liebsten gewesen wäre, man hätte ihm seine Auszeichnung einfach per Post nach Hause geschickt, so fühlte er sich doch auch seiner Aufgabe und seinem Team in Quardenburg verpflichtet.
Warum nur, fragte er sich in diesem Moment, hatte man nicht seinen Kollegen Förnheim für eine solche Auszeichnung vorgesehen? Der hamburgisch-stämmige Forensiker hätte vermutlich Spaß an diesen gedrechselten Politiker-Reden gehabt, dachte Wildenbacher. Aber vielleicht wäre dieses Gewäsch selbst ihm zu verschwurbelt gewesen…
Während Wildenbacher die einschläfernde Wirkung von MdB Moldenburgs sonorer Stimme mehr und mehr zu spüren bekam und immer stärker dagegen ankämpfen musste, einfach die Augen zu schließen, sorgte ein rotes Flimmern innerhalb eines Sekundenbruchteils dafür, dass er wieder hellwach war.
Der Laserpointer eines Zielerfassungsgerätes!, durchzuckte ihn die Erkenntnis. Ein hauchdünner Strahl brach sich in einem Schwarm von aufgewirbelten, in der Luft schwebenden Staubpartikeln und war dadurch für einen kurzen Moment als eine Art hauchdünner, roter Lichtfaden sichtbar.
“Vorsicht!”, dröhnte eine Stimme.
Wildenbacher spürte, wie er förmlich fortgerissen wurde. Irgendetwas riss ihn zu Boden, während gleichzeitig etwas mit hoher Geschwindigkeit nahe genug an seinem Kopf vorbeizischte, das er den Luftzug spüren konnte.
Ein Projektil!
Ungefähr in demselben Moment, als Wildenbacher den Lichtstrahl bemerkte, hatte sich ein massiger Leibwächter in Bewegung gesetzt, Wildenbacher zur Seite gerissen und sich auf den MdB gestürzt, sodass beide zu Boden gingen. Ein anderer Leibwächter riss seine Waffe unter dem Jackett hervor. Sein Blick suchte die Balustrade ab.
Projektile schossen durch die Luft. Eins davon bekam der Leibwächter mit der Waffe in der Hand in die Brust. Er taumelte zurück. Die Kugel hatte das Jackett und das weiße Hemd darunter aufgerissen und war in in einer Kevlar-Weste steckengeblieben.
Unterdessen brach jetzt im Publikum Panik aus. Gäste erhoben sich von ihren Plätzen. Andere duckten sich unter die Tische und wieder andere versuchten den Saal zu verlassen, was angesichts der Enge völlig aussichtslos war. Die Angehörigen des privaten Sicherheitsdienstes gerieten in Bewegung.
Wildenbacher rappelte sich unterdessen auf. Der Leibwächter, der ihn grob zur Seite gerissen hatte, beugte sich über den MdB. Sein massiger Körper hatte den eher schmächtigen Moldenburg wohl noch im entscheidenden Moment etwas abgeschirmt und dabei selbst mindestens zwei Treffer abbekommen, wie die zerfetzte Jacke des Leibwächters dokumentierte.
Allerdings trug dieser Kevlar unter seiner Kleidung.
Der MdB jedoch nicht. Er blutete aus einer Wunde am Oberkörper und aus einer weiteren am Kopf.
“Ich bin Arzt!”, rief Wildenbacher. “Zur Seite! Lassen Sie mich ran, wenn Ihnen das Leben des MdBs was bedeutet!”
7
Als wir an diesem Morgen das Hauptpräsidium in Berlin erreichten, hatten wir von dem Anschlag auf MdB Johannes E. Moldenburg bereits aus den Nachrichten erfahren. Danach hatte sich am Vorabend eine Festhalle in Wismar in einen Ort des Schreckens verwandelt, als ein Unbekannter damit begann, den MdB unter Feuer zu nehmen.
Die Informationen, die in die Öffentlichkeit gelangt waren, blieben ziemlich dürftig, was mit Sicherheit auch fahndungstaktische Gründe hatte.
Aber ein terroristischer Hintergrund galt als sicher. Zumindest wenn man davon ausging, was in den Medien verbreitet wurde.
Als mein Kollege Rudi Meier und ich das Hauptquartier des BKA betraten, wussten wir noch nicht, dass man wenige Augenblicke später uns den Fall übertragen würde.
“Guten Morgen”, grüßte uns Dorothea Schneidermann, die Sekretärin unseres Vorgesetzten. Sie deutete auf die Tür zum Büro unseres Chefs. “Gehen Sie gleich weiter. Fahren Sie nachher mit dem eigenen Wagen nach Wismar oder soll ich Ihnen irgendwas buchen. Der nächste Flugplatz…”
“Sie scheinen schon mehr zu wissen als wir”, stellte Rudi fest.
Dorothea Schneidermann lächelte. “Jedenfalls habe ich Ihnen sicherheitshalber ein Hotelzimmer für die Nacht gebucht, da Sie vermutlich dort zu lange zu tun haben werden, um noch nach Berlin zurückzufahren.”
“Mit dem Wagen müssten das etwa zweieinhalb Stunden sein”, meinte ich.
“Planen Sie besser drei ein”, sagte Dorothea. “Und da seit dem Attentat auf MdB Moldenburg überall Kontrollen durchgeführt werden, dauert es vielleicht sogar noch länger.”
“Na, dann wissen wir ja immerhin schonmal so ungefähr, was auf uns zukommt”, sagte Rudi.
Wir betraten das Büro von Kriminaldirektor Hoch an seinem Schreibtisch und beendete gerade ein Telefonat.
“Guten Morgen”, sagte er knapp und deutete mit einer Geste an, dass wir uns schonmal setzen sollten. “Sie sehen, dass hier der Teufel los ist”, sagte Kriminaldirektor Hoch, während das Telefon erneut klingelte. Während wir uns setzten, nahm unser Chef ab. “Ich rufe gleich zurück”, versprach er und legte wieder auf. “Das war das Ministerium. Sie können sich denken, worum es geht.”
“Den Fall Moldenburg”, sagte ich.
“Exakt.”
“Die Medien berichten seit gestern Abend über nichts anderes als über das Attentat auf den MdB”, meinte Rudi.
Kriminaldirektor Hoch erhob sich von seinem Platz. Die Ärmel seines Hemdes waren hochgekrempelt. Die Krawatte hing ihm bereits zu dieser frühen Tageszeit wie ein Strick um den Hals und der erste Knopf war offen. Er ließ die Hände in den weiten Taschen seiner Flanellhose verschwinden und atmete dann einmal sehr tief durch. “Kurz gesagt, Sie beide werden damit beauftragt, diesen Fall zu lösen. Ihnen steht die gesamte Bandbreite unserer Möglichkeiten zur Verfügung - und Sie wissen ja, dass unsere Behörde da ein breites Repertoire hat. Das Attentat geschah in Wismar, und da ist das BKA hier in Berlin für die operative Umsetzung zuständig. Ich habe bereits mit dem zuständigen Dienstellenleiter telefoniert, genauso wie mit dem Chef der Landespolizei. Sie bekommen jede Unterstützung, die Sie brauchen. Und da der Terrorismus-Verdacht quasi auf der Hand liegt, wird es auch kaum irgendwelche juristischen Widerstände geben, wenn es um die Genehmigungen von Durchsuchungen und Abhörmaßnahmen und dergleichen geht.”
“Wenigstens ein Problem, das wir also in diesem Fall nicht haben werden”, seufzte ich.
Kriminaldirektor Hoch nickte. “Ich weiß, was Sie meinen, Harry. Der Druck der Öffentlichkeit und insbesondere aus der Politik wird in diesem Fall immens groß sein. Die ersten Statements von Abgeordneten wurden bereits verbreitet.”
“Lassen Sie mich raten: Die fordern vermutlich reihenweise schärfere Gesetze und versuchen die Geschichte dazu zu nutzen, dass sie mal wieder eine Fernsehkamera in den Fokus nimmt und sie sich vor ihren Wählern als tatkräftige, entschlossener Macher präsentieren können”, sagte ich.
“So läuft das Spiel”, nickte Kriminaldirektor Hoch. “Und wenn es dann um die Abstimmungen für den nächsten Haushalt geht, und man den Wählern erklären müsste, weshalb wir ein paar Euro mehr für unsere Arbeit benötigen, dann sind dieselben Leute plötzlich abgetaucht. Aber das ist ein anderes Thema. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Sie vor dem Druck abzuschirmen, der aus dieser Richtung auf Sie ausgeübt werden sollte. Machen Sie einfach einen guten Job, wie ich es von Ihnen gewohnt bin.”
“Sie können sich auf uns verlassen”, erklärte Rudi.
“MdB Moldenburg ist bekannt dafür, sich immer wieder nachdrücklich für eine härtere Gangart gegen Terroristen im Ausland eingesetzt zu haben”, erklärte Kriminaldirektor Hoch. “Von daher ist es nicht aus der Luft gegriffen, dass das Attentat einen Zusammenhang mit diesem Themenkomplex hat.”
“Aber sicher ist das keineswegs?”, hakte ich nach.
Kriminaldirektor Hoch hob die Schultern. “Wir ermitteln in alle Richtungen, Harry. Ergebnisoffen. Natürlich liegt ein Zusammenhang zum internationalen Terrorismus nahe, aber bisher gibt es keine Bekenner-Nachricht. Also keine vorschnellen Festlegungen, auch wenn man den Medien zu folge annehmen könnte, dass das alles längst erwiesen ist.”
“Mal eine ganz andere Frage”, sagte ich. “Wie geht es dem MdB eigentlich?”
Kriminaldirektor Hochs Gesicht wurde sehr ernst. “MdB Moldenburg ist inzwischen in einer Klinik hier in Berlin untergebracht worden. Er liegt im Koma und es steht nicht fest, ob er daraus je wieder erwachen wird.”
“Darüber war in den Medien bislang noch nichts zu hören gewesen”, stellte ich fest.
“Der Gesundheitszustand von MdB Moldenburg ist top secret”, erklärte Kriminaldirektor Hoch. “Im Übrigen ist es wohl einzig und allein dem gleichermaßen beherzten wie fachgerechten Eingreifen unseres geschätzten Kollegen Dr. Wildenbacher zu verdanken, dass Moldenburg überhaupt noch lebt.”
“Wildenbacher war anwesend?”, fragte ich.
Kriminaldirektor Hoch nickte. “Er sollte eigentlich im Laufe des Abends eine Auszeichnung für seine Verdienste um das öffentliche Wohl aus der Hand des Ministers annehmen. Aber dazu ist es dann aus den bekannten Gründen nicht mehr gekommen.”
8
Eine Stunde später saßen Rudi und ich in meinem Dienst-Porsche. Wir waren auf dem Weg nach Wismar, wo sich die Tat ereignet hatte.
Wir nutzten die Fahrt, um uns auf den Stand der bisherigen Ermittlungen zu bringen, mochte der auch noch so gering sein. Wir telefonierten mit Lin-Tai Gansenbrink, der Mathematikerin und IT-Spezialistin unseres Ermittlungsteams Erkennungsdienst in Quardenburg.
Sie war genau wie wir bereits von Kriminaldirektor Hoch über die wesentlichen Fakten des Falles informiert worden. Viel war das bislang ja auch noch nicht.
“Ich führe gerade eine Algorithmusunterstützte Analyse sozialer Netzwerke diesen Fall betreffend durch”, erklärte uns Lin-Tai. Ihre Stimme klang über die Freisprechanlage im Dienst-Porsche etwas scheppernd. Offenbar war unser Netzempfang im Augenblick nicht ganz optimal. “Falls es sich bei dem Anschlag tatsächlich um eine Tat von islamistischen Terroristen oder anderen Extremisten handeln sollte, die irgendwie mit MdB Moldenburgs politischen Zielen über Kreuz liegen, dann sollte es in den Netzwerken ein entsprechendes Echo geben.”
“Die Täter werden uns kaum den Gefallen tun und sich dort näher dazu äußern”, glaubte Rudi.
“Sagen Sie das nicht!”, widersprach Lin-Tai. “Das kommt immer wieder vor. Allerdings besteht die Schwierigkeit meistens darin, relevante Äußerungen herauszufiltern und dafür auch die richtigen Suchparameter anzulegen, wenn Sie verstehen, was ich meine.”
“Wir sind im Augenblick auf jede Informationsquelle angewiesen”, stellte ich fest. “Und selbstverständlich erfahren Sie sofort alles an Neuigkeiten, was in irgendeiner Weise in Ihre Untersuchung einfließen könnte.”
“Für mich könnte alles relevant sein, Harry.”
“Natürlich.”
“Es gibt nichts, was man nicht in einem Algorithmus erfassen und beschreiben könnte, Harry.“
“So?”
“Ich nehme im Übrigen an, dass Sie eine Genehmigung haben, die Datenbestände sämtlicher Hotels von Wismar anzuzapfen und auszuwerten.”
“Nein, eine solche Genehmigung liegt noch nicht vor”, erklärte ich und wechselte einen kurzen Blick mit Rudi. Die Tatsache, dass Lin-Tai diese Frage stellte, konnte eigentlich nur heißen, dass sie bereits fleißig damit beschäftigt war, in den Buchungsdaten der zahlreichen ortsansässigen Hotels zu wildern.
“Ich nehme an, es ist das Beste, wir fragen jetzt nicht weiter nach”, mischte sich Rudi ein.
“Es geht höchstwahrscheinlich um einen Fall von Terrorismus, der unsere innere Sicherheit berührt”, gab Lin-Tai zurück. “Ich denke also nicht, dass es irgendwelche Schwierigkeiten machen wird, eine entsprechende richterliche Genehmigung zu erwirken. Und zwar zeitnah.”
“Davon gehe ich auch aus”, murmelte ich.
“Schön, dass wir diesen Punkt noch geklärt haben”, meinte Lin-Tai. “Im Übrigen muss ich mich jetzt darauf konzentrieren, dass hier bei mir alles den richtigen Gang geht.”
“Bis nachher, Lin-Tai”, sagte ich.
“Bis nachher”, wiederholte die IT-Spezialistin. Vor meinem inneren Auge entstand ein Bild ihres Arbeitszimmers, in dem Lin-Tai gleich mehrere Rechner zur gleichen Zeit für sich arbeiten ließ.
“Die Tat war gut vorbereitet”, meinte ich. “Es wäre nicht unwahrscheinlich, wenn der Täter sich dort vorher einquartiert hätte.”
“Was auch ein gewisses Risiko beinhaltet”, gab Rudi zu bedenken.
“Ja. Aber wenn jemand wie Moldenburg ein Charity-Dinner geplant hat, zu dem Dutzende von tatsächlich oder vermeintlich wichtigen Persönlichkeiten kommen, dann kann man davon ausgehen, dass die Sicherheitsvorkehrungen rund um das Ereignis extrem hoch sein werden.”
“Und du meinst, wenn der Kerl einfach früher da war, konnte er das umgehen.”
“Das wäre zumindest eine ziemlich simple Methode, um die ganze Sicherheitsmaschinerie auszutricksen.”
“Apropos Security…”
“Ja?”
“Einer der Wachleute ist von dem Killer erschossen worden.”
“Ja, so steht es in den Unterlagen, die uns bisher vorliegen.”
“Es könnte sein, dass der Täter beim Security Service beschäftigt war, um sich ohne Probleme in die Veranstaltung einschleichen zu können.”
“Und du meinst, dann hat er einen Kollegen erschossen, der auf ihn aufmerksam wurde, weil…”
“...weil der irgendetwas getan hat, was dem toten Kollegen seltsam vorkam, ja.”
Rudi zuckte mit den Schultern. “Das wäre aber ziemlich aufwändig für den Täter gewesen.”
“Einen MdB zu ermorden ist auch nicht so ganz einfach. Schon gar nicht jemanden wie Moldenburg, der sich immer politisch in einer derartigen Weise exponiert hat, die es nicht ganz unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass gewisse Leute ihn als willkommene Zielscheibe sehen.”
“Trotzdem Harry. Meistens sind Profi-Killer doch etwas anders veranlagt. Die wollen so wenig Zeit wie möglich am Tatort verbringen.”
“Nach der Tat, Rudi. Vor der Tat ist das etwas anderes. Da kann es ein unschätzbarer Vorteil sein, sich gut auszukennen.”
“Okay, es spricht ja nichts dagegen, das Personal dieses Security Service zu checken.”
9
Auf die Insel Fellworn gelangte man über einen Damm. Und auf diesem Damm verlief der Autobahn. Es wurden Kontrollen durch die Landespolizei durchgeführt. Auch wir gerieten in eine solche Kontrolle. Wir zeigten unsrer Dienstausweise und durften daraufhin sofort weiterfahren.
Die Werner Bretzler Halle war die größte Festhalle in Wismar. Als wir dort eintrafen, verstopften zahlreiche Einsatzfahrzeuge die Zufahrt zum Parkplatz. Es war das übliche Theater. Fahrzeuge der Polizei standen neben verschiedenen anderen Fahrzeugen.
“Die Kollegen aus Quardenburg sind offenbar auch schon hier”, meinte Rudi.
“Wildenbacher dürfte noch gar nicht wieder zurückgefahren sein”, warf ich ein.
Rudi zuckte mit den Schultern. “Wie auch immer.”
Wir zeigten einer uniformierten Beamtin unsere ID-Cards vor. “Gehen Sie ruhig weiter”, sagte sie. “Ich habe schon gehört, dass die Ermittlungen vom BKA aus geleitet werden.”
“So etwas scheint sich ja schnell herumzusprechen”, sagte ich.
An der Uniform stand ihr Name. Teresa Lautenbach lautete der. Sie trug ihre Haare zu einem Knoten, der dafür sorgte, dass ihr die Dienstmütze ziemlich tief im Gesicht saß. Sie hob das Kinn. “Ich schätze, der Täter war schon kurz nach dem Attentat auf und davon.”
“Wie kommen Sie darauf?”, fragte ich.
“Es gibt drei direkte Zufahrtswege nach Fellworn”, erklärte sie. “Sie sind wahrscheinlich von Norden her gekommen.”
“Richtig.”
“Es gibt die Autobahn, die in Richtung Sölzen führt und die Bundesautobahn im Süden, die direkt nach Wismar führt. Andere Wege kann man nicht nehmen, dazwischen ist Wasser. Und diese drei Verkehrswege wurden schon kurz nach dem Attentat abgesperrt.”
“Durch Kräfte der Polizei?”
“Genau. Jedes Fahrzeug ist kontrolliert und durchsucht worden. Es wurde nichts Verdächtiges festgestellt.”
“Der Täter könnte seine Waffe zurückgelassen haben.”
“Ich nehme sogar an, dass er das getan hat”, nickte Teresa Lautenbach. “Und was glauben Sie, wonach unsere Leute in den letzten Stunden wie verrückt gesucht haben! Aber Näheres dazu kann Ihnen sicher Hauptkommissar Krähenfelder sagen. Er hat unseren Einsatz hier geleitet. Sie finden ihn wahrscheinlich in der Halle.”
“Danke.”
“Ach ja, noch ein Tipp.”
“Und der wäre?”
“Gehen Sie den Kamerateams aus dem Weg, die hier im Augenblick herumschwirren. Die können ziemlich aufdringlich sein.”
“Wir werden uns Mühe geben”, versprach Rudi.
“Im Augenblick fragen die hier jeden Bewohner und jeden Angestellten in den Hotels, ob sie irgendetwas gesehen oder bemerkt haben und blasen das dann zu irgendeiner halbgaren Story auf, weil sie nichts haben, was auf Fakten beruht.”
Wir begaben uns ins Innere der Festhalle.
Ein paar Kollegen des Erkennungsdienstes waren hier noch zu finden. Im Wesentlichen war der Tatort vermutlich bereits abgespurt worden. Wie angekündigt trafen wir auch Hauptkommissar Krähenfelder dort.
Er unterhielt sich gerade mit einem Kommissar des BKA namens Sven Schmidt. Ich kannte Schmidt flüchtig. Er grüßte uns.
“Es läuft zurzeit eine großangelegte Befragung von Zeugen”, sagte Schmidt. “Wir werden von den Polizeikräften vor Ort dabei unterstützt. Jeder Angestellte, jeder Gast des Charity Diners und auch sonst wer, der möglicherweise irgendwelche Angaben machen könnte, wird eingehend vernommen. Aber das dauert natürlich seine Zeit.”
“Vergessen Sie nicht die Hotels”, sagte ich.
“Keine Sorge. Auch da sind bereits Kollegen im Einsatz.”
“Es könnte sein, dass sich der Täter schon längere Zeit vor der Veranstaltung hier irgendwie eingemietet hat.”
“Wir dachten uns, dass wir ein besonderes Augenmerk auf den Sicherheitsdienst legen sollten, der hier im Einsatz war”, meinte Kommissar Sven Schmidt.
Ich nickte. “Das wäre der nächste Punkt gewesen, den ich angesprochen hätte.”
“Wir haben bereits die Personaldaten der Mitarbeiter. Die Firma war sehr kooperativ.”
“Gut.”
“Sie bekommen natürlich die Daten zugeschickt.”
“Vor allen braucht unser Ermittlungsteam Erkennungsdienst in Quardenburg diese Daten, um sie nach statistischen Auffälligkeiten auszuwerten.”
“Kein Problem.”
“Ich kenne die Firma und ihren Inhaber seit langem”, mischte sich jetzt Hauptkommissar Krähenfelder ein. “Um ehrlich zu sein, empfehle ich sie jedem weiter, der einen entsprechenden Bedarf hat.”
“Dann halten Sie das Unternehmen für zuverlässig?”, fragte ich.
Krähenfelder nickte. “Der Besitzer heißt Calanoglu und ist ein Ex-Kollege. Wir haben etwa zur selben Zeit bei der Polizei angefangen.” Hauptkommissar Krähenfelder zuckte die breiten Schultern. “Calanoglu ist früh ausgestiegen und ich habe es bis zum Hauptkommissar gebracht. In den ersten Jahren dachte ich immer, er hätte einen Fehler gemacht. Inzwischen habe ich manchmal den Eindruck, dass es umgekehrt sein könnte.”
In diesem Augenblick zuckte ein Laserstrahl durch den Raum. Es war dieselbe Art von Laserpointer, wie sie auch bei Zielerfassungsgeräten benutzt wurde. Der Strahl kam von der Balustrade und traf Rudi genau in Brusthöhe.
“Wenn ich die Herrschaften da unten mal bitten dürfte, etwas zur Seite zu treten”, rief unterdessen eine Stimme von der Balustrade herab.
Ich konnte den Sprecher nicht sehen.
Da war nur eine Bewegung hinter dem schweren Vorhang, der die Sicht versperrte. Der Laserpointer strahlte durch einen Spalt dazwischen. “Also bitte! Ich weiß, dass man mein gepflegtes Deutsch in diesem Land, das durch die gemeinsame Sprache von meinem getrennt zu sein scheint, nicht immer so versteht, wie es wünschenswert wäre! Aber die geneigten Herrschaften würden mir wirklich sehr helfen, wenn Sie zur Seite träten!”
“Förnheim”, murmelte Rudi. “Ich dachte schon, Sie wollten mich erschießen!”, fügte mein Kollege noch laut genug hinzu, dass der hamburgisch-stämmige Forensiker aus unserem Ermittlungsteam Erkennungsdienst es eigentlich verstehen musste. Zumindest akustisch.
“Wenn Sie nicht sofort zur Seite treten, überlege ich mir das noch!”, rief Förnheim. “Irgendein Kollege hier im Raum wird sicher so freundlich sein, mir dafür seine Dienstwaffe zu leihen. Schließlich geht es um den zügigen Fortgang der Ermittlungen!”
Rudi trat augenblicklich zur Seite. Alle anderen aus der Gruppe folgten seinem Beispiel.
“Und wenn Sie sich jetzt noch bitte auf die Bühne hinter Ihnen an Tisch Nummer vier von rechts setzen könnten, Rudi!”, rief Förnheim. “Sie würden damit meinen Ermittlungen sehr helfen.”
“Wenn es der Verbrechensaufklärung dient…”, meinte Rudi, schwang sich auf die ungefähr einen Meter erhöhte Bühne und setzte sich an den Platz, den Förnheim ihm zugewiesen hatte. Markierungen zeigten an, wo der MdB zu Boden gegangen war. Dunkle Flecken von getrocknetem Blut waren deutlich sichtbar.
“Keine Sorge, dass ist alles abgespurt”, versicherte Hauptkommissar Krähenfelder. “Und davon abgesehen können wir ja wohl davon ausgehen, dass Ihr Forensiker aus Quardenburg genau weiß, was er tut.”
“Ich habe volles Vertrauen in ihn”, meinte ich.
Inzwischen war ein roter Laserpunkt exakt in der Mitte von Rudis Stirn zu sehen. “Vermeiden Sie es im eigenen Interesse, direkt in den Laser hineinzusehen”, rief Förnheim.
“Ich nehme an, ich sitze jetzt genau dort, wo sich MdB Johannes Moldenburg aufhielt, als das Attentat geschah”, meinte Rudi.”
“So ist es!”, bestätigte Förnheim. “Harren Sie bitte ein paar Augenblicke genau so aus und bewegen Sie sich möglichst wenig. Ich bin mit meinen Messungen gleich soweit.”
In diesem Augenblick betrat Dr. Gerold M. Wildenbacher den Raum. Ich hatte erwartet, dass er früher oder später hier auftauchte. Dass er Wismar seit dem Attentat gar nicht erst verlassen hatte, war mir ja schließlich bekannt.
“Soll ich mich vielleicht dazusetzen?”, rief er dröhnend.
“Tun Sie das, Gerold. Dann machen Sie sich hier jedenfalls etwas nützlich und stehen unseren Kollegen nicht unnötig im Weg.”
Wildenbacher nickte Krähenfelder und mir kurz zu. “Dann gibt es ja tatsächlich mal etwas, womit ich unserem Kollegen aus dem Heimatland der Teebeutel und des spitzen Steins eine Freude machen kann”, meinte Wildenbacher und setzte sich an den Platz, auf dem er auch an dem Abend des Attentats gesessen hatte.
Der Laserstrahl bewegte sich etwas. Er schwenkte seitwärts und traf jetzt Wildenbacher in Brusthöhe.
“Ich hoffe, Sie warten jetzt nicht, dass Rudi sich auf den Boden wirft, und ich mich um ihn kümmern muss!”, meinte Wildenbacher.
“Keine Sorge, davon gibt es eine ganze Menge aufgezeichnetes Video-Material!”, rief Förnheim. “Die Veranstaltung war ja bestens dokumentiert.”
Wildenbacher wandte sich unterdessen an Rudi. “Ich habe kurz dieses Flimmern gesehen, dann ist es passiert”, berichtete er. “Einer der Leibwächter hat sich auf den MdB gestürzt und selbst noch etwas abgekriegt. Ich habe mit ihm gesprochen.”
“Das werden wir auch noch müssen”, sagte Rudi.
“Das ging alles so schnell”, sagte Wildenbacher. “Und so sehr ich mich auch bemüht habe, das Leben des MdBs zu retten, weiß ich nicht, ob mir das am Ende gelungen sein wird. Er liegt im Koma und sein Zustand ist alles andere als gut. Der behandelnde Arzt ist ein Studienkollege von mir. Ich habe mit ihm von Arzt zu Arzt geredet, wenn Sie verstehen, was ich meine, Rudi.”
“Ich denke schon.”
Auf Wildenbachers Stirn bildete sich eine tiefe Furche. Seine Bedenken, was den Gesundheitszustand des MdBs anging, standen ihm ins Gesicht geschrieben. “Sein Zustand ist wirklich sehr ernst und ich fürchte, die Chancen stehen achtzig zu zwanzig gegen den MdB.” Wildenbacher atmete tief durch und fuhr dann fort: “Ich wusste schon immer, dass mein Talent mehr bei der Behandlung von Toten als von Lebenden liegt!”
“Okay, ich bin fertig!”, rief jetzt Förnheim. Der Laser wurde abgeschaltet. Er zog den Vorhang zur Seite, sodass man ihn auf der Balustrade sehen konnte. Förnheim ließ den Blick schweifen. “Gute Akustik hier.”
“Ja, man versteht Sie ohne Mikro!”, rief Wildenbacher.
“Das ist immer in erster Linie eine Frage der deutlichen Aussprache, verehrter Kollege!”, erwiderte Förnheim. “Aber davon weiß man in Bayern sicherlich nichts.”
“Das habe ich jetzt nicht verstanden! Muss an Ihrer Aussprache liegen!”, gab Wildenbacher zurück.
Wenig später hatte Förnheim die Balustrade verlassen und kam durch den Saal. Über seiner Schulter hing eine Tasche, in der sich vermutlich ein paar Utensilien befanden, die er für seine Untersuchungen brauchte. Rudi war inzwischen wieder vom Platz des MdBs aufgestanden, während Wildenbacher sitzen blieb und sehr nachdenklich wirkte. Mich wunderte das nicht. Wildenbacher galt zwar als jemand, unter dessen knochenharter Schale sich das Gemüt eines Schlachters verbarg, aber das war vielleicht nicht die ganze Wahrheit. Die Tatsache, dass direkt neben ihm jemand Ziel eines Attentats geworden war, konnte wohl auch an ihm nicht spurlos vorbei gegangen sein, auch wenn er vielleicht nach außen hin den Eindruck zu erwecken versuchte.
“Gibt es irgendwelche neuen Erkenntnisse, die Sie uns mitteilen können?”, fragte Wildenbacher.
“Ich wusste gar nicht, dass Sie als Gerichtsmediziner in diesem Fall zurzeit überhaupt involviert sind”, gab Förnheim zurück. “Soweit mir bekannt, gibt es bis jetzt nur mehr oder weniger schwer Verletzte, aber keinen Toten, den Sie sezieren könnten, abgesehen von dem Wachmann. Und wir wollen doch beide hoffen, dass das auch so bleibt, oder?”
“Wenn Sie mir auf Ihre gedrechselte Art sagen wollen, dass Sie nichts herausgefunden haben, ist das auch in Ordnung”, gab Wildenbacher zurück.
Förnheim runzelte die Stirn und wandte sich an mich. “Es ist noch ein bisschen zu früh, um darüber zu reden, und über ungelegte Eier…”
“Tun Sie es trotzdem”, unterbrach ich ihn.
Förnheim hob kurz die Schultern. “Irgendetwas passt hier nicht zusammen.”
“Was meinen Sie damit?”
“Kann ich Ihnen noch nicht sagen. Es betrifft die Schussbahn, die Position des MdBs… Naja, ich habe mehrere Video-Aufzeichnungen aus unterschiedlichen Perspektiven des Vorfalls gesehen und mir ist schon klar, dass das Ganze eine sehr chaotische Situation war.”
“Sie meinen wahrscheinlich das Eingreifen des Leibwächters.”
“Ja, das vor allem. Dadurch ist das entstanden, was man eine hochkomplexe Ereigniskette nennen könnte. Sehen Sie, der Schütze hat gezielt, aber offenbar wurde der Laserstrahl bemerkt und der Leibwächter konnte rechtzeitig eingreifen. Allerdings ist da ein Faktor, der mich etwas irritiert.”
“Und der wäre?”
“Also gehen wir mal davon aus, der Attentäter ist ein Profi und hat eine militärische Ausbildung genossen. Bei einem islamistischen Terroristen wäre das nicht ungewöhnlich. Manche nutzen den Dienst in einer Armee gezielt dafür aus, um entsprechende Kenntnisse zu erwerben…”
“Ja, und?”, fragte ich.
“Der Killer müsste doch gewusst haben, dass man die Laserzielerfassung erst im letzten Moment vor dem Schuss einschalten darf, weil sonst vielleicht bemerkt wird. Wenn man unter den gegebenen Verhältnissen nicht sogar besser darauf verzichtet! Aber um das zu beurteilen, müsste ich mir noch einmal genau die Lichtverhältnisse in den Video-Aufzeichnungen ansehen.”
“Jetzt schwurbeln Sie nicht so herum”, meinte Wildenbacher. “Worauf wollen Sie hinaus?”
“Also zurzeit gehe ich davon aus, dass der Täter schlecht gezielt hat. Und das, obwohl er ein High-Tech-Equipment zur Verfügung hatte! Und im Augenblick denke ich über die möglichen Gründe dafür nach.”
“Er wurde gestört”, gab ich zu bedenken. “Darum wurde der Wachmann erschossen!”
“Das ist zwar bis jetzt nur eine Hypothese, aber in der Tat eine, für die sehr vieles spricht”, nickte Förnheim. “Es gibt noch zwei weitere Möglichkeiten, die in Frage kämen.”
“Und die wären?”, hakte ich nach.
“Er könnte einfach ein schlechter Schütze gewesen sein. Ein Amateur mit der Ausrüstung eines Profis - aber eben doch ein Amateur.”
“Glaubenskriegern und anderen Extremisten kommt es meistens in erster Linie auf die richtige Gesinnung und den nötigen Fanatismus an”, meinte ich. “Nicht auf militärische Präzision.”
“In so fern würde das zum Profil der mutmaßlichen Tätergruppe passen”, meinte Rudi.
“Sie erwähnten noch eine weitere Möglichkeit”, wandte ich mich an Förnheim. Der Forensiker kratzte sich am Kinn. “Naja, vielleicht war das auch keine, die man ernstnehmen sollte und es bleibt bei denen, die ich aufgezählt habe… Im Moment warte ich sowieso dringend auf die Ergebnisse des ballistischen Tests.”
“Wer macht den?”, fragte ich.
“Ein hinlänglich versierter Kollege.” Förnheim seufzte. “Und alles kann man ja schließlich nicht selber machen.”
In diesem Augenblick klingelte Förnheims Handy. Er langte in die Innentasche seines Jacketts und holte sein Smartphone hervor, um das Gespräch anzunehmen.
“Es freut mich überaus, endlich von Ihnen zu hören, Kollege”, sagte er. Wildenbacher verdrehte die Augen, was sicherlich an dem überdeutlich hervortretenden hamburgischen Akzent lag. Ich hingegen hegte die begründete Hoffnung, dass es sich bei der Person am anderen Ende der Verbindung um niemand anderen handelte, als den Kollegen, der die ballistischen Tests durchgeführt hatte.
Förnheim verstummte plötzlich.
Er schien ausgesprochen angestrengt zuzuhören. Eine sehr energisch wirkende Falte bildete sich dabei in der Mitte seiner Stirn und zog sich von der Nasenwurzel bis zum Haaransatz. “Okay, dann weiß ich Bescheid”, sagte Förnheim schließlich.
“Gibt es Neuigkeiten?”, fragte Wildenbacher.
“Ich bin sehr froh, dass Sie bei dem Attentat nicht getroffen wurden, Gerold. Ihre intelligenten Fragen würde ich nämlich sehr vermissen.”
“Ich vermisse im Moment eine Antwort!”
Förnheim hob die Augenbrauen. “Das Ergebnis der ballistischen Vergleichstests ist da. Die Waffe, die der Täter benutzt hat, wurde bereits einmal verwendet. Und zwar bei dem Mordanschlag auf einen gewissen Franz Lutterbeck.”
“Wann war das?”, fragte ich.
“Vor zwei Monaten”, antwortete jetzt Wildenbacher anstelle von Förnheim. “Ich war auf der Beerdigung. Franz Lutterbeck stammte wie ich aus Antonsburg, Bayern. Wir sind auf dieselbe Gesamtschule gegangen und hatten auch später noch immer wieder mal miteinander zu tun, als Franz als Staatsanwalt tätig war.”
“Interessant, dass ein guter Bekannter von Ihnen offenbar in diesen Fall verwickelt ist”, sagte Förnheim.
“Ich hatte mit der Morduntersuchung im Fall Lutterbeck nichts zu tun”, sagte Wildenbacher.
“Was sicher auch besser so gewesen ist”, gab Förnheim zurück. “Sie wären schließlich befangen gewesen.”
Ich wandte mich an Wildenbacher. “Ein MdB wird in Ihrer unmittelbaren Nähe mit derselben Waffe erschossen wie ein alter Schulfreund von Ihnen”, stellte ich fest. “Ich hoffe nicht, dass Sie auch auf der Todesliste des Täters stehen.”
“Da bin ich mir ganz sicher”, sagte Wildenbacher. “Es gibt tatsächlich eine sehr plausible Verbindung zwischen beiden Opfern.”
“Und die wäre?”, hakte ich nach.
“Meinen Sie Lutterbecks rechtliche Einschätzung zur Gefahr durch islamistischen Terror in der Enquéte-Kommission des Bundestages und MdBs Moldenburgs militantes Eintreten für die Verschärfung der Anti-Terror-Gesetze?” warf Förnheim ein.
“Sie sprechen da ein paar wichtige Dinge an”, bestätigte Wildenbacher. “Genau darauf wollte ich hinaus.”
“Es wäre nett, wenn Sie beide uns vielleicht einweihen könnten”, verlangte Rudi. “Welche Enquete-Kommission? Und was hat das mit unserem Fall zu tun?”
“Ich schlage vor, Sie übernehmen das, Gerold”, schlug Förnheim an Wildenbacher gerichtet vor. “Schließlich scheinen Sie ja einiges mehr über Lutterbeck zu wissen als die wenigen Informationsschnipsel, die man mir gerade am Telefon mitgeteilt hat.”
Wildenbacher nickte. “Mein Freund Franz Lutterbeck war ein brillanter Jurist mit einer Bilderbuch-Karriere”, sagte der Pathologe aus Quardenburg. “Im Vorfeld verschiedener Geheimoperationen der Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr, die letztendlich zur Tötung einiger Terroristen geführt hat, hat die Bundesregierung sich durch eine Kommission hochrangiger Juristen beraten lassen, in wie fern eine derartige Operation gegen Terroristen im Ausland durch deutsches Recht gedeckt ist. Man wollte verhindern, dass möglicherweise irgendwann Angehörige oder Nachfahren vor Gerichten einzelne Mitglieder der Regierung verklagen.”
“Wie ich annehme hat Lutterbeck der Regierung juristisch grünes Licht gegeben”, sagte ich.
“So kann man das nicht sagen”, meinte Wildenbacher. “Es ist vielmehr so, dass diese Kommission aus Spitzenjuristen für die Regierung eine Art rechtlichen Rahmen erstellt hat, innerhalb dessen sie handeln konnte und dabei durch die Expertise der Kommissionsmitglieder juristisch einigermaßen abgesichert war.”
“Aber ein Terrorist, der sich als islamistischer Glaubenskrieger versteht, könnte in jemandem wie Lutterbeck natürlich ebenso ein Feindbild erkennen wie in MdB Moldenburg mit seinem Eintreten für schärfere Gesetze”, stellte Rudi fest.
“Das bedeutet, dass sich der Verdacht damit erhärtet hat, dass tatsächlich Terroristen für den Anschlag auf den MdB verantwortlich sind”, meinte Förnheim.
“Fehlt nur noch eine Bekennerbotschaft”, erklärte ich.
Wildenbacher machte eine wegwerfende Handbewegung. “Ich wette, die wird nicht lange auf sich warten lassen”, glaubte er. “Harry, da ist noch was anderes.”
“Was?”, fragte ich.
“Es ärgert mich ungemein, dass man mich in diesem Fall bislang nichts tun lässt, weil man mich anscheinend als irgendwie betroffen ansieht.”
“Sind Sie das denn nicht?”, fragte ich zurück.
“Ach, Harry! Nur weil ich neben einem MdB gesessen habe, auf den geschossen wurde, muss man mich doch nicht wie ein rohes Ei behandeln! Ich bin arbeitsfähig, in keiner Weise in den Fall involviert, der mich voreingenommen oder befangen erscheinen lassen könnte und trotzdem lässt man die Obduktion des toten Wachmanns jemand anderen durchführen.”
“Dieser andere ist auch ein renommierter Kollege”, gab Förnheim zu bedenken. “Das sollte man nicht unerwähnt lassen, Gerold. Und so sehr Sie alle Welt als Papst der Pathologie schätzen mag: Leichen aufschlitzen und in den Gedärmen herumwühlen können auch andere. Mag es Ihnen auch noch so schwer vorstellbar erscheinen!”
“Es ist nicht so, dass ich nicht noch genug Leichen in Quardenburg auf dem Tisch des Hauses liegen hätte”, meinte Wildenbacher, der Förnheims Bemerkung anscheinend gar nicht weiter zur Kenntnis nahm, sondern stattdessen die Unterhaltung mit mir fortsetzte. “Trotzdem werden Sie verstehen, dass mich dieser Fall nicht loslässt.”
“Natürlich”, sagte ich.
“Sie sollten vielleicht mal mit MdB Moldenburgs Frau sprechen”, meinte Wildenbacher. “Sie war nicht an dem Abend anwesend, weil die Tochter der Moldenburgs an dem Abend eine Schulaufführung hatte.”
“Hat Ihnen das der MdB erzählt?”
“Er saß ja neben mir”, sagte Wildenbacher. “Und er hat ein ziemlich mitteilsames Wesen, wenn Sie verstehen, was ich meine.”
Ich verstand das sehr gut. Bei Wildenbacher war das die Umschreibung für einen Dauerredner.
“Ich nehme an, Frau Moldenburg ist jetzt in Berlin, wo ihr Mann behandelt wird”, meinte ich.
“Ja, aber ich habe mit ihr inzwischen zweimal telefoniert. Das erste Mal, als ich sie darüber informiert habe, was passiert ist. Und das zweite Mal heute Morgen. Ich wollte nämlich Näheres wissen. Und offenbar ist es so, dass die Moldenburgs in letzter Zeit Drohungen erhalten haben, die explizit Bezug auf Moldenburgs politische Positionen nahmen.”
“Ich nehme an, die Behörden wissen davon.”
“Nein, anscheinend wusste nur Moldenburgs engere Umgebung darüber Bescheid, Harry.”
“Wieso das denn?”, mischte sich Rudi ein. “Normalerweise wird doch gleich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, wenn ein MdB von Terroristen bedroht wird.”
“Genau”, nickte Wildenbacher. “Und genau das wollte Moldenburg offenbar verhindern. Seine persönlichen Sicherheitsleute waren gewarnt, aber er wollte auf gar keinen Fall, dass davon etwas in die Öffentlichkeit dringt oder er sich vor lauter Sicherheitsmaßnahmen gar nicht mehr frei bewegen kann. Möglicherweise hätte dann dieses Charity-Essen hier in Wismar gar nicht stattgefunden…”
“...sondern an einem Ort, der sich besser sichern lässt”, vollendete ich.
“Frau Moldenburg hat mir gesagt, dass ihr Mann in der Öffentlichkeit als kraftvoll und durchsetzungsstark dastehen wollte - nicht als jemand, der sich vor irgendwem verstecken muss. ‘Ein paar Spinner, die fiese Mails schreiben, gibt es immer’, hätte er gesagt. Das müsste man nicht ernst nehmen.”
“Nur dass einer von denen in diesem Fall tatsächlich seinen Plan in die Tat umgesetzt hat”, meinte Rudi.
“Wann fahren Sie zurück nach Quardenburg?”, fragte ich Wildenbacher.
Der Pathologe zuckte mit den Schultern. “Keine Ahnung. Ich dachte, ich verfolge erstmal, was hier am Tatort noch sonst ans Tageslicht kommt.”
10
Etwas später sprachen wir mit Richard Catenhusen. Er gehörte zu den Leibwächtern des MdBs und wahrscheinlich war Johannes E. Moldenburg durch Carters entschlossenes Eingreifen gerettet worden. Catenhusen hatte bei dem Attentat selbst etwas abbekommen. Streifschüsse und Fleischwunden, die in einer Ambulanz in Wismar selbst hatten behandelt werden können. Außerdem hatte er eine ganze Reihe von Hämatomen durch Kugeln, die von seiner Kevlar-Weste abgefangen worden waren.
Wir trafen Catenhusen in seinem Hotelzimmer, nur wenige Fußminuten von der Werner Bretzler Halle entfernt. Vom Hotelzimmer aus hatte Catenhusen einen freien Blick auf den Strand und die Ostsee.
“Es gibt schlimmere Orte, um sich auszukurieren”, meinte er.
“Wir möchten Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, Herr Catenhusen”, sagte Rudi.
“Nur zu! Wenn ich etwas kurzatmig erscheine, dann liegt das vielleicht daran, dass ich ein paar üble Prellungen am Oberkörper habe. Aber ich bin froh, dass wenigstens nichts gebrochen ist.” Er verzog das Gesicht. Offenbar hatte er reflexartig doch etwas zu heftig geatmet.
“MdB Moldenburg soll in der Zeit vor dem Attentat bedroht worden sein”, stellte ich fest. “Wissen Sie Näheres darüber?”
“Natürlich. Aber das hat den MdB ehrlich gesagt nicht besonders beunruhigt. Eher schon seine Frau.”
“Wie sahen diese Bedrohungen aus?”
“Es kam immer wieder vor, dass sein Email-Account und sein privates Handy gehackt wurden. Er wurde dabei förmlich mit Hassbotschaften überschüttet.”
“Wurde er beobachtet? Sind irgendwelche Personen dabei auffällig geworden?”
“Ja, das ist auch vorgekommen. In diesen Fällen ist das dann von Ihren BKA-Kollegen überprüft worden - aber es ist nie etwas dabei herausgekommen.”
“Seltsamerweise steht nichts davon in unseren Unterlagen”, sagte Rudi.
“Nein, das wollte der MdB nicht. Er ist den kurzen Dienstweg gegangen, wenn Sie verstehen, was ich meine.”
“Und wie sah der aus?”
“Der zuständige Dienststellenleiter der Polizei in Reichenberg ist ein persönlicher Bekannter des MdBs. Und über dessen Büro hat er die Überprüfungen durchführen lassen. Aber wie ich schon sagte, das war jedesmal blinder Alarm. Wenn Sie in einer Position wie MdB Moldenburg sind und sich dann auch noch politisch so stark exponieren, dann kommt es immer wieder vor, dass Sie den Eindruck haben, dass jemand Sie beobachtet. Manchmal waren es Journalisten, die irgendeine Story über das Privatleben des MdB zusammenschmieren wollten.”
“Wir werden mal mit den Kollegen in Reichenberg sprechen”, sagte ich. Was immer auch über diese Vorfälle festgehalten worden war und wie belanglos sie auch sein mochten, so sicher stand fest, dass wir darüber alles wissen mussten, was es zu wissen gab. Schließlich war es durchaus möglich, dass der Attentäter sein Opfer schon sehr viel früher ausgespäht hatte.
Dasselbe galt für die privaten Handydaten des MdBs. Auch die brauchten wir. Aber das würde noch ein heikles Thema werden und war nicht so einfach durchzusetzen. Schließlich war Moldenburg das Opfer und nicht etwa ein Verdächtiger. Und es gab für Leute wie Moldenburg manchmal durchaus gute Gründe, sich vor der Untersuchung ihrer Handy-Daten zu fürchten. Vor allem dann, wenn es da vielleicht Kontakte gab, deren Existenz nicht an die Öffentlichkeit dringen sollte.
“Ist Ihnen vor Beginn der eigentlichen Veranstaltung irgendetwas aufgefallen, was vielleicht mit dem Anschlag in Zusammenhang stehen könnte?”, fragte ich.
“Also, wenn Sie mich fragen, dann muss ich erstmal eins feststellen: Das ganze war nicht sehr professionell geplant. Das fing schon damit an, dass irgendetwas mit dem Catering nicht so ganz geklappt hat. Da fehlte irgendeine entscheidende Lieferung und es herrschte in der Werner Bretzler Halle die blanke Panik, weil man befürchtete, das Problem nicht bis zum Beginn der Gala lösen zu können. Der Sicherheitsdienst, der eigentlich für die Kontrollen sorgen sollte, war die reinste Chaos-Truppe. Ich hatte den Eindruck, dass die für diesen Anlass eine Menge an zusätzlichem und schlecht geschultem Personal angeheuert haben.”
“Wie kommen Sie darauf?”
“Die Kontrollen beim Einlass waren chaotisch. Erst ging es nicht voran, dann hat man wohl viele Gäste oder vermeintliche Gäste einfach durchgewunken. Meinem ganz persönlichen Eindruck nach war der Einsatz der Kollegen auch schlecht koordiniert. Ich hatte immer das Gefühl, die laufen durcheinander wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen. Tja, und zu allem Überfluss ist auch noch kurz vor Beginn der Veranstaltung ein Teil der Beleuchtung kaputtgegangen. Zum Glück hat man dann noch ein Elektriker-Team herbeischaffen können.”
“Das heißt, das Licht hat dann doch noch funktioniert.”
“Ja, zum Glück. Die ganze Veranstaltung stand wirklich auf Messers Schneide. Wissen Sie, ich begleite den MdB ja jetzt schon einige Jahre und ich kann Ihnen sagen, dass das unter Sicherheitsgesichtspunkten betrachtet schon sehr… abwechslungsreich war. Gerade in Wahlkämpfen gibt es manchmal Situationen, die der Alptraum jedes Personenschützers sind. Dichtes Gedrängel, aufdringliche Leute, die sich gar nicht nahe genug an ihr politisches Idol herandrängeln können und hin und wieder ein paar Verrückte, die schlicht und ergreifend austicken.”
“Hört sich nicht gerade so an, als wären Sie um Ihren Job zu beneiden!”, meinte ich.
“Ich bin ganz ehrlich. Wenn sich bei einer diese Gelegenheiten ein Selbstmordattentäter mit einem Sprengstoffgürtel in die Nähe meiner Schutzperson begeben würde, wäre ich machtlos.”
“Das wäre jeder.”
“Ja. Aber ich wäre schon froh gewesen, wenn der MdB wenigstens die grundlegenden Vorsichtsmaßnahmen beachtet hätte.”
“Hat er nicht?”
“Er hat das nie besonders ernst genommen. Es gehörte quasi zu seinem Image, keine Furcht zu haben. Einer, der zu einem furchtlosen, kompromisslosen Kampf gegen Terroristen aufruft, kann ja nicht selbst wie eine ängstliche Memme daherkommen und sich verkriechen! So lautete sein Credo.”
“Kann ich nachvollziehen.”
“Außerdem ist MdB Moldenburg auch noch ziemlich eitel.”
“Wie hat sich das ausgedrückt?”
“Er hat keine Schutzweste getragen. Sehen Sie, ich würde jetzt nicht mit Ihnen reden, wenn ich keine Weste angehabt hätte. Kann ja sein, dass man dann etwas pummelig aussieht. Aber ich sage immer: Lieber fett und lebendig als eine Kugel im Bauch. Aber obwohl Frau Moldenburg in diesem Punkt ganz auf meiner Seite war, wollte er davon nichts hören.”
“Aber Sie müssen zugeben, dass bei so einem Charity-Ereignis es schon eher ungewöhnlich gewesen wäre, wenn der MdB da mit einer Kevlar-Weste unter dem Anzug gesessen hätte.”
“Ein Personenschützer wird ja wohl mal träumen dürfen.”
Ich gab Catenhusen eine der Visitenkarten, die das BKA für seine Kriminalinspektoren drucken lässt. “Ich nehme an, Sie bleiben noch ein paar Tage hier in Wismar”
“Mein Boss braucht mich im Moment wohl kaum.”
“Falls Ihnen noch irgendetwas einfallen sollte, dass Sie für relevant halten, dann…”
“...werde ich mich bei Ihnen melden. Ganz bestimmt.”
“Okay.”
“Und wer immer auch hinter dieser Sache stecken mag - ich hoffe, dass Sie sie kriegen.”
“Wir geben uns alle Mühe”, ergänzte Rudi.
11
Als wir ins Freie traten, wehte ein kühler Wind. Es dämmerte bereits.
“Ein fanatischer Attentäter, der nacheinander einen Top-Juristen und einen MdB umbringt”, meinte Rudi. “Dass dabei auch noch ein Wachmann sterben musste, wird das Gewissen dieses Täters nicht sonderlich belasten, wie ich vermute.”
“Für einen Glaubenskrieger geht der Täter überraschend kühl und professionell vor, findest du nicht auch, Rudi?”
“Die Terroristen des 11. September waren auch exzellent vorbereitet”, gab Rudi zu bedenken. “Und das ist nicht das einzige Beispiel. Das sind nicht einfach nur Fanatiker, sondern häufig Personen, die sich über Jahre hinweg auf ihre Taten vorbereiten.”
“Ja, aber der Täter dachte ganz sicher nicht daran, sich selbst aufzuopfern.”
“Das ist zwar ein sehr häufiges, aber kein zwingendes Tatmerkmal bei Verbrechen dieser Art”, gab Rudi zu bedenken.
“Also wenn sich der MdB jetzt für schärfere Gesetze gegen Geldwäsche ausgesprochen hätte und dieser Franz Lutterbeck als ein superharter Staatsanwalt seine Lebensaufgabe in der Bekämpfung des organisierten Verbrechens gesehen hätte, anstatt dem Präsidenten zu helfen, Anti-Terror-Operationen im Ausland juristisch zu rechtfertigen, dann…”
“Dann was?”, hakte Rudi nach, nachdem ich zunächst gestockt und nicht weitergesprochen hatte.
Ich zuckte mit den Schultern, während wir ein Stück weiter gingen. “Dann hätten wir doch wahrscheinlich als erstes vermutet, dass ein Profi-Killer hier aktiv war, oder?”
“Die Umstände sind aber nunmal nicht so, Harry.”
“Vielleicht trifft ja sogar beides zu”, meinte ich.
“Was meinst du jetzt?”
“Na, dass Lutterbeck sich in seiner aktiven Zeit als Staatsanwalt jede Menge Feinde im organisierten Verbrechen gemacht hat und MdB Moldenburg für die Verschärfung von Gesetzen eingetreten ist, die genau diese Leute hart getroffen hätten.”
“Ja, wenn wir jetzt viel Zeit hätten, könnten wir das alles mal sorgfältig überprüfen, Harry.”
“Das lässt sich schon herausfinden…”
“Im Moment würde ich sagen, sollten wir den offensichtlichen Spuren folgen und vor allen Dingen erst einmal die naheliegendsten Fragen endlich vernünftig beantworten.”
Ich sah Rudi etwas erstaunt an. “Und was sind deiner Meinung nach die naheliegendsten Fragen?”
“Na, da gibt es einige. Aber ganz oben steht diese auf meiner Liste, Harry: Wie hat es der Schütze geschafft, unbemerkt in die Veranstaltung zu kommen, sich offenbar unbehelligt hinter dem Vorhang an der Balustrade zu postieren und das Attentat durchzuführen. Nur mit Schlamperei und Nachlässigkeit bei dem Security Service oder meinetwegen auch der mangelnden Professionalität von Hilfskräften ist das nicht zu erklären. Und selbst wenn das der entscheidende Faktor gewesen sein sollte, dann wüsste ich doch ganz gerne, wie genau das vor sich gegangen ist!”
“Du sprichst immer so von dem Täter, dass man annehmen könnte, du meinst einen Mann.”
“Naja…”
“Genau genommen wissen wir noch nicht einmal das, Rudi.”
12
Wir trafen uns mit Katrina Gintert, einer energiegeladenen, quirligen Enddreißigerin. Sie war die Chefin des Security Service, der für die Sicherheit bei der Veranstaltung mit MdB Moldenburg verantwortlich gewesen war. Die Büros und der Fuhrpark von Gintert SECURITY INC. lagen ganz im Süden von Wismar an der Südspitze von Fellworn. Ein unscheinbares Flachdachgebäude, ein Parkplatz für den Fuhrpark der Firma und ein Schießstand, der offenbar gegen Bezahlung auch Privatpersonen und Touristen zur Nutzung angeboten wurde, gehörten zur Firma.
Katrina Gintert empfing uns in ihrem Büro.
Wir stellten uns kurz vor und sie bot uns an, uns zu setzen.
“Möchten Sie einen Kaffee?”, fragte sie. “Manche würden sagen, dass es dafür ein bisschen spät ist, aber ich trinke das Zeug rund um die Uhr.”
“Nein danke”, sagte ich und auch Rudi lehnte ab.
“Wir würden gerne unmittelbar zur Sache kommen”, sagte mein Kollege.
“Sie gestatten sicher, dass ich mir einen eingieße. Und was Ihr Anliegen angeht, habe ich schon vorgearbeitet.”
Katrina Gintert ging zu ihrer Kaffeemaschine und goss sich eine sehr große Tasse Kaffee ein. Die Tasse, die sie dafür benutzte, hatte schätzungsweise den Volumeninhalt eines Bierkrugs.
“In welcher Weise haben Sie denn vorgearbeitet?”, fragte ich. “Sie wissen doch noch gar nicht, was wir Sie fragen wollen.”
“Sie werden sich fragen, wie ein Attentäter in die Veranstaltung mit MdB Moldenburg gelangen konnte, obwohl so umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden”, schloss Katrina Gintert. “Und Sie werden sich außerdem fragen, ob nicht möglicherweise einer oder mehrere meiner Mitarbeiter in der Sache drinstecken könnten…”
“Kurz gesagt, wir brauchen sämtliche Personaldaten Ihrer Leute”, sagte ich. “Dafür gibt es auch einen richterlichen Beschluss.”
Katrina Gintert öffnete eine Schublade ihres Schreibtischs und holte eine Mappe hervor. Diese schob sie anschließend über den Tisch. “Vielleicht können wir das Ganze etwas abkürzen.”
“Abkürzen?”
“Ich habe Ihnen die Daten der Mitarbeiter herausgesucht, die arabisch klingende Namen tragen, in den Personalbögen angegeben haben, muslimischen Glaubens zu sein und nicht länger als drei Monate bei uns beschäftigt waren.”
“Sie erfragen bei der Einstellung Ihrer Leute die Religionszugehörigkeit?”, wunderte sich Rudi.
“Natürlich. Sehen Sie, wir sorgen hier bei allen Veranstaltungen in Wismar sowie in den Hotels für die Sicherheit. Und wenn beispielsweise eine große Hochzeitsfeier nach irgendeinem Ritus, der jetzt nicht ganz so allgemein verbreitet ist, stattfindet, dann möchte ich schon, dass da auch ein paar Mitarbeiter eingeteilt werden, die mit den Besonderheiten dieser Situation vertraut sind.”
Ich nahm die Mappe entgegen. Gerade mal ein halbes Dutzend Datenbögen waren darin zu finden. Ausdrucke in mäßiger Qualität.
“Ich danke Ihnen für diese Unterlagen”, sagte ich diplomatisch. “Aber das reicht uns leider nicht.”
“Aber…”
“...die von Ihnen gewünschte Abkürzung ist uns einfach etwas zu kurz”, ergänzte Rudi.
“Wir brauchen die Daten aller Ihrer Angestellter. Und zwar möglichst in elektronischer Form. Entweder auf einem Datenträger oder Sie senden die Datei direkt an unsere Kollegen in Quardenburg.” Ich legte ihr den entsprechenden Beschluss auf den Tisch. “Und hier ist im Übrigen die rechtliche Grundlage dafür.”
Katrina Gintert schluckte.
Die Mappe, die sie mir gegeben hatte, war nichts als ein Köder, den wir schlucken sollten, in der Hoffnung, dass wir dann Ruhe gaben. Aus irgendeinem Grund wollte sie es vermeiden, uns die vollständigen Personaldaten ihres Unternehmens zu geben.
Möglicherweise waren da ein paar Leute mit zweifelhafter oder sogar krimineller Vergangenheit dabei und sie fürchtete negative Publicity. Die Sicherheitsbranche war von jeher ein Bereich, in dem sich immer auch zweifelhafte Existenzen tummelten. Polizisten, die aus dem Dienst geflogen waren, weil sie sich nicht an die Regeln gehalten hatten, gab es da ebenso wie ehemalige Kriminelle. Natürlich betraf das nur einen kleinen Anteil, aber erfahrungsgemäß übte diese Branche einfach eine gewisse Anziehungskraft auf Leute aus, die schon in einem anderen Zusammenhang an den Umgang mit Waffen gewöhnt waren.
“Ich habe über fünfhundert Angestellte”, sagte Katrina Gintert.
Das entsprach ungefähr auch meiner vorsichtigen Schätzung. “Ich bewunderte Sie für Ihr Organisationstalent und Ihren unternehmerischen Elan”, sagte ich. “Aber an unserem berechtigten Anliegen ändert das leider nichts.”
“Sie werden mir sicher eine gewisse Frist einräumen”, sagte sie.
“Wie lange?
“Der Mitarbeiter, der sich um diese Dinge kümmert, ist leider schon nicht mehr hier im Haus…”
“Dann rufen Sie ihn her! Wir brauchen die Daten sofort. Und von einer Frist ist in dem Durchsuchungsbeschluss auch nicht die Rede”, stellte ich klar.
Katrina Gintert hob die Augenbrauen. Ihr Blick hatte die gewinnende Freundlichkeit völlig verloren. Sie nippte an ihrem Kaffee, um etwas Zeit zu gewinnen. “Brauche ich jetzt einen Anwalt?”, fragte sie.
“Brauchen wir jetzt die Unterstützung von zwanzig Kollegen der Landespolizei, die mal eben Ihre Büros umkrempeln und sämtliche Computer und Datenträger konfiszieren, um sie so schnell wie möglich nach Quardenburg zu transportieren?”, fragte ich zurück.
Kooperation oder Nicht-Kooperation, das war jetzt die Frage. Und der Spielball lag im Feld von Katrina Gintert.
“Scheint, als wären Sie nicht zu Kompromissen bereit”, sagte sie schließlich.
“Wenn dieser Kompromiss bedeutet, dass ein eiskalter Killer einen noch größeren Vorsprung bekommt, als er ihn ohnehin schon hat, dann bin ich in der Tat dagegen”, gab ich zurück.
“Sie bekommen die Daten”, sagte Katrina Gintert schließlich. “Aber nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich es nicht gutheißen kann, wie Sie fünfhundert Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma unter einen pauschalen, unbegründeten Generalverdacht nehmen, der für uns alle Existenzbedrohend sein kann!! Das ist nämlich ein sehr sensibles Gewerbe, wenn Sie verstehen, was ich meine. Da reichen manchmal schon Gerüchte aus, um eine Existenz zu vernichten und dafür zu sorgen, dass jemand kein Bein mehr an den Boden bekommt.”
“Seien Sie versichert, dass Ihre Mitarbeiter keineswegs unter Generalverdacht gestellt werden”, sagte ich. “Es ist vielmehr umgekehrt: Es ist uns daran gelegen, Sie und Ihre Leute zu entlasten.”
“Das freut mich zu hören”, murmelte Katrinas Gintert schmallippig.
13
Wir bekamen die Daten von Katrina Gintert auf einem Datenträger.
Später, als wir bereits in dem Hotel waren, in dem Dorothea Schneidermann uns für die Nacht eingemietet hatte, schickten wir die Daten über Rudis Laptop nach Quardenburg. Wir hatten in Rudis Zimmer ein provisorisches Büro eingerichtet und ich telefonierte mit Dr. Lin-Tai Gansenbrink, der IT-Spezialistin unseres Ermittlungsteam Erkennungsdiensts.
Glücklicherweise war sie noch an ihrem Arbeitsplatz. Aber bei ihr waren Überstunden nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Und das galt natürlich insbesondere dann, wenn wir zusammen an einem Fall arbeiteten, der diese Tragweite hatte. Ein Attentat auf einen MdB war schließlich alles andere als seine Kleinigkeit.
“Ich habe heute den ganzen Tag die Reaktionen in den einschlägigen sozialen Netzwerken verfolgt”, berichtete sie. “Teilweise habe ich dazu auch die Hilfe von ein paar Kollegen in Anspruch genommen, die über Sprachkenntnisse in Arabisch, Urdu und Persisch verfügen.”
“Und? Sind dabei neue Erkenntnisse zu Tage getreten?”, fragte ich.
“Das weiß ich noch nicht so genau. Die Erkenntnisse verbergen sich ja manchmal in dem zu Grunde liegenden Material und werden erst durch eine eingehende Analyse wirklich sichtbar.”
“Mit anderen Worten: Nichts Neues.”
“Sagen wir es mal so: Ich hätte eigentlich ein anderes Ergebnis erwartet.”
“Wie darf ich das verstehen?”
Lin-Tai hatte durchaus manchmal die Angewohnheit, stillschweigend vorauszusetzen, dass ihr Gegenüber ihre Gedankensprünge mitzuvollziehen vermochte. Und sie setzte dabei auch gewisse Vorkenntnisse einfach voraus, über die in Wahrheit wahrscheinlich nur eine sehr kleine Anzahl von Personen verfügten, die sich sehr profunde Kenntnisse in den Bereichen IT, Mathematik und Statistik erworben hatten. Ich gebe gerne zu, dass ich nicht zu diesem erlauchten Kreis zählte.
“Wenn Terroristen mit islamistischem Hintergrund ein Attentat dieser Größenordnung verüben, dann gibt es ein bestimmtes Reaktionsmuster in verschiedenen sozialen Netzwerken”, erklärte Lin-Tai. “Ich spreche jetzt nicht von Bekenner-Videos und ähnlichem! Die gibt es dann meistens auch. Ich spreche vielmehr von weltweit vernetzten Kreisen, die selbst zwar keine terroristischen Aktionen begehen, die den Tätern aber ideologisch nahestehen. Einige haben sogar mit den Tätern Kontakt. Wir gehen davon aus, dass durch tatsächliche Mitwisser und Mitglieder von terroristischen Gruppen nach Attentaten gezielt Informationen gestreut werden, die dann im Netz später Wellen von Postings auslösen. Oft beginnen diese Posting-Wellen bereits, bevor die traditionellen Medien darüber berichten. Und das Wichtigste! Sie haben mathematische Ausbreitungsmuster, die sich identifizieren lassen, weil ihnen bestimmte Charakteristika eigen sind.”
“Und wie ist die Lage im Fall des Attentats auf MdB Moldenburg?”
“Nichts. Kein Muster. Keine typische Posting-Lawine in den Netzwerken. Ein bisschen nachträgliche Gehässigkeit bei bestimmten Hass-Postern, die dafür bekannt sind. Aber auch da nur in deutschsprachigen Foren.”
“Wie meinen Sie das?”
“Deswegen habe ich ja meine Fremdsprachenbewanderten Kollegen hinzugenommen, da ich mich bei meiner Analyse ungern auf Übersetzungsprogramme verlassen und außerdem gezielt nach bestimmten, in diesen Postings immer wieder benutzten Begriffen suchen wollte.”
“Und?”
“Überall, wo man Arabisch, Urdu oder Persisch spricht, weiß so gut wie niemand etwas vom Tod eines deutschen MdBs. Ausnahmen sind lediglich einige fremdsprachige Communitys in Deutschland. Das ist äußerst seltsam, wenn man voraussetzt, dass MdB Moldenburg einem internationalen Terror-Anschlag zum Opfer gefallen sein soll.”
“Sie zweifeln das an?”
“Wenn ich ehrlich bin, besteht dazu eigentlich kein Anlass. Und es gibt ja auch einige unabweisbare Fakten, die genau in diese Ermittlungsrichtung zeigen.”
“Wie zum Beispiel den Mord an Franz Lutterbeck.”
“Dieser Jurist hat zwar die Anti-Terror-Operationen im Ausland juristisch legitimiert und sich damit sicherlich bei Al-Qaida und Co. keine Freunde gemacht. Aber in seiner Zeit als Staatsanwalt und als Strafverteidiger dürfte er sich auch nicht nur Sympathien auf allen Seiten erworben haben.”
“Sie meinen, es gäbe noch andere, die einen Grund hätten, Lutterbeck umzubringen.”
“Ja.”
“Und gleichzeitig Moldenburg?”
Ich hörte Lin-Tais Seufzen durch das Telefon. “Harry, ich will, Sie nicht von der Theorie abbringen, dass es sich um einen Anschlag von Terroristen handelt, die das tun, weil sie glauben, dadurch ins Paradies zu kommen. Alles was ich Ihnen sagen kann ist folgendes: Verlieren Sie andere mögliche Ermittlungsansätze nicht aus den Augen. Die Netz-Reaktionen sind jedenfalls nicht so, wie es dem mathematischen Muster entspräche. Sowas kommt vor, Harry. Aber eine mögliche Ursache dafür wäre eben auch, dass etwas ganz anderes hinter den beiden Morden steckt.”
“Wie auch immer. Ich habe Ihnen die Personaldaten der Sicherheitsfirma geschickt.”
“Das ist nett. Ich habe heute Mittag bereits die Daten des Catering Service bekommen, der für die Verpflegung der hohen Herrschaften in der Werner Bretzler Halle verantwortlich war. Vielleicht kommt etwas dabei heraus.”
“Ich höre dann wahrscheinlich morgen wieder von Ihnen.”
“Ganz sicher. Machen Sie auch Schluss, Harry. Es fällt selbst am Telefon auf, dass Sie verzweifelt versuchen, ein Gähnen zu unterdrücken.”
“Es beruhigt mich, dass Sie das sagen, Lin-Tai.”
“Wieso?”
“Weil Sie sich irren. Und weil ich auf Grund dieser Tatsache sicher weiß, dass Sie die Kamera meines Smartphones doch noch nicht gehackt haben, sondern sich tatsächlich auf Ihre Ohren verlassen haben.”
“Auf der Kamera Ihres Smartphones sieht man nur Dunkelheit, weil Sie das Gerät gerade ans Ohr pressen, Harry!”, gab Lin-Tai zurück.
Ich beendete das Gespräch.
Rudi hatte unterdessen etwas über die Personen recherchiert, die uns Katrina Gintert in ihrer Mappe als Top-Verdächtige präsentiert hatte.
“Norbert Merendan ist wegen Drogenhandels und Körperverletzung im Gefängnis gewesen. Dort hat er sich der Organisation ‘German Sharia’ angeschlossen und zum Islam bekehren lassen.”
“Das macht ihn noch nicht zu einem Terroristen. Was ist ‘German Sharia’ für eine Organisation?”
“Die verstehen sich als eine Art deutscher Arm von Terrornetzwerken wie Al-Qaida. Zumindest hat sich die Organisation dorthin entwickelt. Als Merendan ihr beitrat scheint der Schwerpunkt von ‘German Sharia’ noch etwas anders gewesen zu sein…”
“Gefangenenseelsorge?”
“So kann man das nennen. Aber die Gruppe hat sich in eine bestimmte Richtung entwickelt und gilt heute als ein Sammelbecken für radikale Hassprediger.”
“Wo ist dieser Merendan jetzt?”
“Er hat seit kurzem hier in Wismar eine Adresse. Seit er bei Katrina Gintert vor zwei Wochen einen Job fand.”
“Wir sollten ihn zumindest mal befragen.”
“Falls er noch hier ist, Harry. Andererseits könnte gerade das die beste Tarnung des Täters sein. Wenn er sich gleich nach dem Attentat davongemacht hätte, wäre man vermutlich gleich auf ihn aufmerksam geworden.”
Ich sah auf die Uhr. “Ist zwar ein bisschen spät für einen Besuch, aber bevor er uns durch die Lappen geht…”
14
Wir machten uns also nochmal auf den Weg, stiegen in den Wagen und fuhren die paar Kilometer bis zum Nordende von Fellworn. Norbert Merendan - oder Idris Muhammad, wie er sich zwischenzeitlich nach seinem Eintritt bei ‘German Sharia’ auch genannt hatte - lebte offenbar zurzeit bei einem Kollegen, der ebenfalls bei Gintert angestellt war. Das Haus lag auf der dem Meer abgewandten, weniger mondänen Seite der schmalen Insel. Kein Wunder. Spitzenverdiener waren Katrina Gintert’ Security Guards ganz sicher nicht, aber trotzdem erwartete man vermutlich von ihnen, dass sie in der Nähe ihres Einsatzortes wohnten, um ständig verfügbar zu sein.
“Katrina McGinis hat sich bei uns ja so bitter darüber beklagt, dass wir ihre gesamten Angestellten unter Generalverdacht stellen würden”, meinte Rudi. “Aber eins sage ich dir, die Vorauswahl, die sie uns quasi zum Fraß hingeworfen hat, war auch nicht ganz ohne plumpes Vorurteil.”
“Du meinst, abgesehen von diesem Merendan sind das Fehltreffer?”
“Da ist eine Frau mit arabischem Vornamen dabei, die angegeben hat, der syrisch-orthodoxen Gemeinde anzugehören. Das sind Christen. Und dann war da noch ein gewisser Omar Alfombra in der Liste. Das klang für Frau Gintert offenbar arabisch. Alfombra ist aber spanisch. Der Mann ist Spanier und kommt aus Madrid, wie ich herausbekommen konnte.”
“Frau Gintert Schnell-Fahndung eben!”
“Aber auch ein blindes Huhn findet manchmal ein Korn. Was diesen Merendan betrifft.”
“Trägt er seinen neuen Namen eigentlich nicht mehr öffentlich? Ich meine Namensänderungen sind in Deutschland nicht so leicht möglich, aber als eine Art Künstlernamen...”
“Eher Kriegsnamen.”
“Wie auch immer.”
“Bei Gintert hat er sich als Norbert Merendan angemeldet, aber Islam als Glauben angegeben.”
“Wenn er wirklich der Killer war, wäre das ziemlich ungeschickt, oder?”
“Fragen wir ihn einfach selber.”
Wir erreichten das Haus von Florian Arlheim, dessen Haus Norbert Merendan als Adresse angegeben hatte. Ein kleiner, schmuckloser Bungalow. Das Baujahr datierte wahrscheinlich in einer Zeit, da Wismar noch nicht als Party-Meile für Großveranstaltungen aller Art bekannt geworden und die Grundstückspreise noch dementsprechend erschwinglich gewesen waren.
Es standen zwei Fahrzeuge in der Einfahrt. Eines davon war ein Geländewagen. “Der gehört Merendan”, meinte Rudi. “Jedenfalls ist auf diese Nummer so ein Fahrzeug auf seinen Namen zugelassen.”
“Was du alles so schnell überprüft hast…”
“Das war nun wirklich kein Kunststück, Harry.”
“Eines Tages machst du noch Lin-Tai Konkurrenz.”
“Ganz bestimmt nicht.”
Ich hatte den Dienst-Porsche auf der gegenüberliegenden Straßenseite abgestellt. Wir passierten die Einfahrt und standen wenig später vor der Haustür und klingelten.
Ein Mann im Uniform-Hemd der Sicherheitsfirma machte uns auf und unterdrückte ein Gähnen. ‘Florian Arlheim’ stand auf dem Namensschild in Brusthöhe.
“Kriminalinspektor Harry Kubinke, BKA. Dies ist mein Kollege Rudi Meier”, stellte ich uns vor.
“Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das sind.”
“Wieso?”
“Sie untersuchen doch den Mord an dem MdB.”
“Das scheint sich schnell herumzusprechen.”
“Also ehrlich gesagt hat mir ein Kollege von Ihrem Wagen erzählt.” Arlheim deutete hinüber zur anderen Straßenseite hin, wo der Dienst-Porsche stand. “Ist ein Dienst-Porsche, allerdings kein normaler… Mein Kollege hat vermutet, dass es ein Hybrid sein könnte.”
“Ihr Kollege hat ein gutes Auge", musste ich zugeben.
“Schon klar.”
“Wenn Ihrem Kollegen der Wagen schon aufgefallen ist, dann werden Sie sicher nachvollziehen können, dass so ein Fahrzeug für den normalen Dienstgebrauch bei Observationen eher nicht so gut zu gebrauchen ist", ergänzte Rudi.
Arlheim sah mich an. “Aber Sie, als Kriminalinspektor werden mit sowas wie Observationen ja wohl kaum noch was zu tun haben, oder irre ich mich da?”
“Herr Arlheim, wir haben ein paar Fragen an…”
“Ich werde Ihnen da nicht viel sagen können. An dem Tag, an dem das mit dem MdB passiert ist, hatte ich Dienst im Hotel Blaue Schaumkrone, ein paar hundert Meter von der Werner Bretzler Halle entfernt. Da war nämlich zur gleichen Zeit eine große private Party angesagt. Mitarbeiter einer Versicherungsgesellschaft, die einmal im Jahr ziemlich über die Stränge schlagen. Da kann es schonmal etwas handgreiflich werden, wenn zuviel getrunken wurde.”
“Eigentlich wollten wir mit Ihrem Kollegen sprechen, Herr Merendan”, sagte ich.
“Sein Wagen steht in der Einfahrt”, ergänzte Rudi. “Er muss also hier sein.”
Arlheims Gesichtsausdruck wurde ernst. “Ich habe ihm ein freies Zimmer überlassen, bis er was gefunden hat”, meine er. “Ist nicht so leicht, hier in Wismar was zu finden. Die Preise sind in den letzten Jahren um ein Vielfaches angestiegen.”
Er drehte sich um und ging ins Haus zurück.
“Norbert?”, rief er. “Hier sind zwei BKA-Kriminalinspektoren, die mit dir reden wollen! Wegen der Sache in der Werner Bretzler Halle.” Es gab keine Antwort. “Norbert?”, fragte Arlheim nochmal.
Ich hatte eine üble Vorahnung. “Herr Norbert Merendan?”, rief ich. “Hier spricht das BKA!”
Rudi hatte bereits seine Dienstwaffe in der Hand.
Ein Geräusch war zu hören, so als würde sich jemand an einem Fenster zu schaffen machen. Ein Rollladen wurde hochgezogen.
“Wo ist das Zimmer?”, fragte ich Arlheim.
“Zweite Tür links.”
“Sie bleiben hier und rühren sich nicht.”
Ich stürmte voran und hielt dabei die Waffe in der Hand. Mit einem Tritt sprang die Tür zur Seite. Das Zimmer, in das ich blickte, wirkte wie ein ehemaliges Kinderzimmer. Vom Alter her war es gut möglich, dass Arlheim schon erwachsene Kinder hatte, die ausgezogen waren und deren Zimmer er jetzt hin und wieder bei Gintert vorübergehend angestellten Hilfskräften zur Verfügung stellen konnte.
Das Fenster stand offen. Der Wind wehte die Gardine herein. Draußen war eine Gestalt an dem Geländewagen.
“Stehenbleiben! BKA!”, rief ich.
Etwas blitzte auf.
Mündungsfeuer. Eine Kugel fuhr dicht neben mir in den Fensterrahmen und fetzte durch das weiche Holz hindurch, um dann irgendwo hinter mir in die Möbel hineinzuschlagen.
Zwei weitere Schüsse wurden abgefeuert. Ich duckte mich.
Einen Augenblick später startete der Geländewagen. Er setzte mit aufheulendem Motor zurück.
“Was ist denn hier los?”, hörte ich eine Frauenstimme sagen. Vermutlich war das Arlheims Frau. Ich bekam noch mit, dass Rudi sie anwies, zu bleiben, wo sie war.
Ich sprang auf, schwang mich durch das Fenster und rannte die Einfahrt entlang. Der Geländewagen raste indessen mit vollkommen überhöhter Geschwindigkeit davon. Der Motor heulte auf. Ich erreichte die Straße und zielte auf die Hinterreifen. Gerade, als der Geländewagen, die nächste Ecke erreichte und vermutlich im nächsten Augenblick abgebogen wäre, erwischte ich den Reifen hinten rechts. Der Wagen brach aus. Anstatt die Kurve zu nehmen, rutschte das Fahrzeug seitwärts in einen Vorgarten hinein. Ein zweiter Schuss sorgte jetzt dafür, dass auch vorne rechts die Luft entwich.
15
Nach einem kurzen Spurt hatte ich das Fahrzeug erreicht. Norbert Merendan wirkte etwas benommen. Er hatte sich in der Eile natürlich nicht angeschnallt. Außerdem konnte er nicht aussteigen, da das Fahrzeug seitlich einen Blumenhügel hineingerutscht war und dabei genug Erde aufgehäuft und vor sich hergeschoben hatte, dass jetzt die Fahrertür von innen nicht geöffnet werden konnte.
Seine Waffe war Norbert Merendan auf den Boden gerutscht.
Ich sah ihm an, dass er darüber nachdachte, sie an sich zu reißen.
“Davon rate ich Ihnen ab!”, sagte ich mit der Dienstwaffe in der Faust. “Vergessen Sie einfach ganz schnell, worüber Sie gerade noch nachgedacht haben, Herr Merendan. Und dann steigen Sie bitte ganz langsam über die Beifahrerseite aus!”
“Ich werde keine Aussage ohne Anwalt machen!”, sagte Merendan.
“Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee”, sagte ich.
16
Norbert Merendan ließen wir durch Kollegen der Landespolizei nach Berlin bringen, wo man ihn zunächst mal in einer Gewahrsamszelle des dortigen Präsidiums unterbringen würde.
Rudi und ich planten für den nächsten Tag ja ebenfalls unsere Rückkehr nach Berlin und wir gingen davon aus, dann Gelegenheit zu haben, mit Merendan zu reden. Möglicherweise war er bis dahin auch schon von einem der Verhörspezialisten des BKA-Büro befragt worden - sofern er einen Anwalt gefunden hatte und überhaupt zu einer Aussage bereit war.
Nachdem Merendan von den Kollegen abtransportiert worden war, unterhielten wir uns noch mit Florian Arlheim und seiner Frau. Beiden war nichts Verdächtiges an Merendan aufgefallen.
“Wir hatten nicht allzuviel miteinander zu tun”, sagte Florian Arlheim. “Ich meine, bei Gintert arbeiten ein paar hundert Männer und Frauen und die verteilen sich auf die verschiedenen Hotels und Veranstaltungsorte, die es hier in Wismar gibt. Und so lange war er ja auch noch nicht dabei.”
“Hat er sich irgendwann mal über den MdB und seine politischen Ziele geäußert?”
“Nein. Nicht, dass ich mich erinnern könnte.”
“Wussten Sie, dass Herr Merendan Mitglied einer Organisation gewesen ist, die sich ‘German Sharia’ nennt?”
“Ich wusste, dass er Muslim ist und er hat mir auch erklärt, dass er im Gefängnis zum Glauben gefunden hat. Um von den Drogen loszukommen.”
“Und das hat funktioniert?”
“Er sagt ja. Seitdem sei er clean. Und ich habe ihm das geglaubt.”
“Wieso?”
“Hören Sie, ich bin schon ziemlich lange im Sicherheitsgewerbe. Da lernt man Leute einschätzen. Und es gibt bestimmte Anzeichen dafür, ob jemand süchtig ist oder auch nur ab und zu was nimmt. Sie kennen die doch auch.”
“Natürlich.”
“Und Norbert hatte keins davon. Keine Hämatome durch Spritzen, keine geweiteten Pupillen, keine Stimmungsschwankungen oder euphorischen Zustände. Er trank noch nicht einmal Alkohol. Keinen Tropfen. Das verbot ihm sein Glaube nämlich auch. Wenn man etwas über ihn sagen kann, dann, dass er dadurch vielleicht auf die Dauer Schwierigkeiten gehabt hätte, richtig einer von uns zu werden.”
“Was mein Mann damit sagen will, ist, dass die Weihnachtsfeiern bei Katrina Gintert berüchtigte Saufgelage sind”, warf Frau Arlheim ein.
17
Der Mann schlug den Kragen seines Mantels hoch. Es hatte in Berlin leicht zu nieseln begonnen.
Ein Handy klingelte. Der Mann griff in die Innentasche seines Mantels und holte sein Smartphone hervor. Er trat in den flackernden Schein einer Neonreklame.
“Ja?”
“Es ist ein Fehler passiert.”
“Der wird korrigiert werden.”
“Kann ich mich darauf verlassen?”
“Ja.”
“Es muss jetzt sehr schnell gehandelt werden.”
“Das ist mir bewusst.”
“Existiert schon ein Plan?”
“Ja.”
“Ich will ihn gar nicht wissen.”
“Schon klar.”
“Ich will einfach nur, dass er durchgeführt wird.”
“Ich denke, in Kürze ist das Problem gelöst.”
“Das will ich hoffen. In unser beider Interesse.”
Das Gespräch wurde beendet. Der Mann im Mantel schloss die Hand um das kleine Wegwerfhandy. Aber nur vier Fingerkuppen waren anschließend auf dem Display zu sehen, denn der kleine Finger seiner rechten Hand war verkürzt.
Ich habe noch eine einzige Chance!, ging es ihm durch den Kopf. Mehr nicht!
18
Diese Nacht war selbst für mich extrem kurz gewesen. Rudi und ich waren schon in unserer Hamburger Zeit daran gewöhnt gewesen, dass sich das organisierte Verbrechen nicht nach den Bürozeiten des BKA richtet und man sich eben so manche Nacht um die Ohren hauen muss.
Es war der Klang meines Handytons, der mich aus dem Schlaf riss. Ich war kaum wach genug, um auf dem Display erkennen zu können, wer mich da erreichen wollte.
“Guten Morgen, Harry”, vernahm ich dann im nächsten Moment die Stimme von Förnheim. “Ich habe mir erlaubt, Ihr Handy zu orten und dabei festgestellt, dass Sie noch nicht nach Berlin zurückgekehrt sind.”
“Was ist los?”
“Ich schlage vor, Sie kommen eben noch einmal in die Werner Bretzler Halle. Wir haben jetzt etwas gefunden, das dem Fall durchaus eine neue Wende geben könnte.”
“Können Sie nicht in knappen Worten umreißen, worum es geht?”
“Wenn ich die Spannung bei Ihnen etwas aufrecht erhalte, dann habe ich vermutlich die Gewähr, dass Sie sich beeilen. Ihren Kollegen Rudi habe ich vergeblich anzurufen versucht. Ich weiß nicht, in welchem der Hotels hier in Wismar Sie in der vergangenen Nacht gefeiert haben, aber…”
“Wir sind gleich bei Ihnen”, versprach ich.
Vielleicht war es wirklich besser, wenn ich mir die Sache selbst ansah. Das Frühstück nahmen Rudi und ich wenig später im Schnellgang zu uns. Die wichtigste Komponente war dabei ein sehr starker Kaffee. Rudi war mindestens genauso müde wie ich. Aber er ließ sich das erstaunlich wenig anmerken.
“Förnheim, der große Geheimniskrämer”, meinte Rudi. “Er hat mich übrigens deswegen nicht erreichen können, weil ich gerade unter der Dusche war, als er angerufen hat.”
“Ich fürchte, Förnheim ist jetzt für alle Zeiten tief enttäuscht von deinem Dienstverständnis, Rudi.”
“Damit werde ich dann wohl leben müssen. Ich habe übrigens bereits mit Kriminaldirektor Hoch gesprochen - und mit Kommissar Reinhold Crome, einem Vernehmungsspezialisten vom BKA-Büro Berlin.”
“Sag bloß, Norbert Merendan hat doch noch geredet?”
“Es war nichts aus ihm herauszubekommen. Sein Anwalt hat ihm geraten zu schweigen und das hat er dann auch getan. Und wenn nicht schleunigst ein paar stichhaltige Indizien gefunden werden, die nahelegen, dass er wirklich in die Sache verwickelt ist, dann wird man ihn wieder auf freie Fuß setzen müssen.”
“Er hat auf einen BKA-Kriminalinspektor gefeuert. Das dürfte schon ins Gewicht fallen.”
“Das ermöglicht es auf jeden Fall, ihn länger festzuhalten. Aber wenn die Anklage letztlich auf Widerstand gegen die Staatsgewalt hinausläuft, dann ist das ja wohl absolut nicht das, was wir wollen, oder?”
Rudi hatte natürlich Recht. Wir hatten bislang nichts gegen Merendan in der Hand. Und auch den Angriff auf mich würde eine Jury ganz anders bewerten, wenn sich herausstellen sollte, dass Merendan vielleicht vollkommen unschuldig war, und einfach nur Angst davor gehabt hatte, dass ihn irgendjemand mit seiner alten Zeit als drogensüchtiger Krimineller in Verbindung zu bringen.
“Sobald wir in Berlin sind, werden wir mal unser Glück versuchen”, kündigte ich an. “Vielleicht kommt dabei ja mehr heraus.”
“Ein paar Fragen, auf die wir Antworten haben wollen”, sagte Rudi. “Das war alles, was wir wollten. Ich frage mich, wieso der Kerl so ein Drama veranstaltet hat.”
“Das wäre unter anderem eine der Fragen, die ich von Merendan gerne beantwortet hätte”, gab ich zurück. Ich trank meinen Kaffee leer. Wirklich wach fühlte ich mich nicht. Aber immerhin erschien mir die Gefahr, am Steuer des Dienst-Porsche einzuschlafen auf ein vertretbares Maß reduziert worden zu sein.
Die kurze Strecke vom Hotel zur Werner Bretzler Halle gingen wir zu Fuß. Es wehte ein ziemlich frischer Wind. Aber im Moment war das genau das Richtige für uns, um etwas wacher zu werden.
Einer der uniformierten Kollegen begrüßte uns in der Werner Bretzler Halle und und brachte uns in einen Nebenraum. Dort waren mehrere Flachbildschirme und einiges an Computer-Equipment aufgestellt. Außer Förnheim waren auch noch zwei Kommissare des BKA anwesend. Beides Spurensicherer und Forensiker wie Förnheim.
“Ich will sehr hoffen, dass Ihre Aufmerksamkeit jetzt auf einem Niveau ist, das es auch erlaubt, komplexere Sachverhalte zu durchdringen”, begrüßte uns Förnheim.
“Wir werden uns bemühen”, versprach ich.
Auf einem der Bildschirme war eine schematische Darstellung zu sehen. “Kurz vor Beginn der Veranstaltung kam es zu einem Stromausfall, der die Organisatoren der Veranstaltung einigermaßen in Panik versetzt hat, wie Sie sich denken können. Wir haben inzwischen ermitteln können, was die Ursache war und uns die Sache etwas genauer angesehen.” Auf dem Schirm blinkte eine Markierung auf. “Hier in dieser Stelle wurde ein Kabel unterbrochen. Leicht zu reparieren, aber der Effekt war geeignet, bei den Veranstaltern Herzrasen zu verursachen. Vor allem hat es sie wohl dazu bewogen, anschließend die Sicherheitsmaßnahmen erheblich schleifen zu lassen.”
“Wie meinen Sie das genau?”, fragte Rudi.
“Das erkläre ich Ihnen jetzt. Es wurde ein Elektro-Notdienst gerufen. Sehen Sie hier auf einem Überwachungsvideo im Eingangsbereich.”
Es war in einer Videosequenz zu sehen, dass zwei Männer den Eingangsbereich passierten. Sie trugen blaue Jacken mit einem Firmen-Logo und Werkzeugtaschen. Der diensthabende Wachmann winkte sie durch.
“Augenblick mal!”, sagte ich. “Mal ein Standbild von dem Wachmann, sodass sein Gesicht zumindest seitlich zu sehen ist.”
“Kein Problem”, sagte Förnheim.
“Und zoomen Sie es etwas heran.”
“Sollte uns der Zufall gewogen sein, und Sie eine Entdeckung machen lassen?”, fragte Förnheim auf seine gedrechselte Art.
“Nein”, sagte ich. “Zufall ist das ganz sicher nicht.” Ich wandte mich an Rudi. “Den Kerl kennen wir doch!”
“Unser verhinderter Gesprächspartner der letzten Nacht: Norbert Merendan, zeitweilig auch bekannt als Idris Muhammad”, stellte Rudi fest.
“Das Beste kommt noch”, sagte Förnheim. “Wenig später passiert das hier!” Der Forensiker zeigte uns eine weitere Video-Sequenz aus den Aufzeichnungen der Kameras.
“Da kommt ein dritter Elektriker”, stellte ich fest. “Und unser Freund Merendan winkt ihn einfach durch.”
“Falsch”, sagte Förnheim. “Es sieht auf den ersten Blick so aus, als wäre das der dritte Elektriker. Aber wenn Sie genau hinsehen, dann stellen Sie fest, dass er zwar eine blaue Jacke trägt, die den Jacken der beiden anderen Männer ähnelt, aber dass das Firmenemblem fehlt. Außerdem trägt er eine Mütze, deren Schirm dafür sorgt, dass man vom Gesicht kaum etwas sehen kann. Und die Tasche ist eine Sporttasche, kein Werkzeugkoffer.”
“Vielleicht war da sein Werkzeug drin”, meinte Rudi.
“Ausgeschlossen. Das sieht eher so aus, als wäre da gar nichts drin oder etwas sehr Leichtes. Soll ich Ihnen nochmal vorführen, wie sich die anderen beiden Männer abgeschleppt haben? Der hier tänzelnd völlig unbeschwert über das Parkett.”
“Zu dumm, dass das Gesicht im Schatten liegt”, meinte ich.
“Beachten Sie bitte, dass Merendan und dieser Mann sich zu kennen scheinen. Sie reden kurz miteinander. Sehen Sie… hier!”
Förnheim führte uns die entsprechende Stelle vor.
“Das sieht tatsächlich sehr vertraut aus”, stellte Rudi fest.
“Wir haben bei der Elektro-Firma angerufen”, mischte sich nun einer der anwesenden Kommissare ein. “Die sind sich ganz sicher, nur zwei Leute geschickt zu haben - nicht drei.”
“Der falsche Elektriker könnte der Attentäter sein”, meinte ich.
“Sein Gesicht ist nicht zu sehen und ich fürchte, wir werden da auch nicht viel machen können”, erklärte Förnheim. “Dafür gibt es ein anderes Merkmal, das deutlich zu erkennen ist und nicht so häufig sein dürfte.”
Förnheim zoomte die Hand des falsche Elektrikers heran und vergrößerte sie so extrem, dass das Bild sehr grobkörnig wurde.
“Der kleine Finger wirkt irgendwie…”
“...zu kurz”, vollendete Förnheim meinen Satz. “Sie haben völlig recht, Harry, da fehlt ein Stück.”
“Abgehackte Fingerteile würde ich jetzt allerdings eher bei Mitgliedern der Yakuza oder der Triaden erwarten, als bei islamistischen Terror-Gruppen”, meinte Rudi.
“Es gibt viele Gründe für einen verkürzten oder verkrüppelten kleinen Finger”, dozierte Förnheim. “Das kann das Ergebnis eines Unfalls, die Folge einer Erkrankung oder eine Missbildung von Geburt an sein. Und selbst unser bayerischer Rinder-Doc könnte anhand dieses grobkörnigen Bildes wohl kaum eine Ferndiagnose wagen. Also werde ich es gar nicht erst versuchen.”
“Okay”, sagte ich.
“Tatsache ist, an dem Finger fehlt was. Da seine Körpergröße durch ein entsprechendes Telemetrie-Programm einwandfrei festgestellt werden kann, haben wir schon zwei unveränderbare Merkmale von ihm.”
“Das wäre also eine Aufgabe für Lin-Tai”, stellte ich fest.
“Ich habe schon mit ihr gesprochen”, sagte Förnheim. “Sollte der Kerl irgendwann mal straffällig geworden oder auch nur erkennungsdienstlich behandelt worden sein, würde uns das die Identifikation erheblich erleichtern.”
“Vorausgesetzt natürlich, er hatte den verkürzten Finger schon, als diese erkennungsdienstliche Behandlung stattgefunden hat”, gab ich zu bedenken. “Ich meine, Sie haben gerade gesagt, dass dieses Merkmal ja auch das Ergebnis eines Unfalls gewesen sein könnte und wenn der jetzt erst später stattgefunden hat…”
“Sie sollen länger schlafen, Harry”, sagte Förnheim.
“Wieso?”
“Dann würden Sie optimistischer denken.”
Rudi grinste. “Wo er Recht hat, hat er Recht, Harry”, meinte er. Dann wandte er sich an Förnheim. “Wo ist übrigens Wildenbacher?”
“Glücklicherweise geht er mir hier nicht mehr auf die Nerven und steht mir im Weg herum. Er ist zurück nach Quardenburg gefahren und dürfte…” Förnheim blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk. “...in schätzungsweise einer Stunde dort auch eintreffen.” Dann sah er auf und blickte zunächst Rudi und anschließend mich an. “Tun Sie beide mir einen Gefallen.”
“Und der wäre?”, fragte ich.
“Lassen Sie ihn aus dem Fall raus. Der braucht jetzt erstmal etwas Ruhe und ich möchte eigentlich vermeiden, dass er einen Knacks davonträgt.”
“Glauben Sie wirklich, dass man sich in dieser Hinsicht um Gerold Sorgen machen muss?”, fragte ich zweifelnd.
“Eigentlich kennen wir ihn doch eher als eine gelinde gesagt robuste Natur”, ergänzte Rudi.
“Mein Schwerpunktgebiet sind zwar die klassischen Naturwissenschaften, aber als Forensiker verfüge ich natürlich auch über grundlegende Kenntnisse in anderen Gebieten, die für unsere Sache wichtig sind. Dazu gehört auch die Psychologie und insbesondere die Traumapsychologie.”
“Sie glauben doch nicht etwa, Gerold könnte traumatisiert sein?”, meinte ich.
“Wenn unmittelbar neben Ihnen jemand erschossen wird? Wieso nicht? Das wäre nichts Ungewöhnliches. Die psychischen Folgen können schlimmer sein, als wenn Sie selbst etwas abbekommen. Und gerade Leute wie Gerold sind in der Gefahr, nicht auf erste Anzeichen zu achten, weil sie denken, dass sie immun gegen so etwas seien. Das sind sie aber nicht, Harry. Das ist niemand. Also sollte er sich am besten ein paar freie Tage nehmen und zur Ruhe kommen.”
“Wenn Sie meinen…”
“Ich habe schon mit unserem Vorgesetzten gesprochen. Ein paar freie Tage sind überhaupt kein Problem. Gegen das Angebot eines psychologisch-fundierten Gesprächs, wird er sich natürlich wehren wie ein bayerischer Bulle beim Alm-Abtrieb.”
19
Rudi und ich fuhren zurück nach Berlin. Von unterwegs aus telefonierten wir mit Kriminaldirektor Hoch, um ihn über den gegenwärtigen Stand der Ermittlungen in Kenntnis zu setzen.
Um in die BKA-Zentrale im Hauptpräsidium zurückzukehren, hatten wir keine Zeit. Stattdessen fuhren wir gleich zum BKA-Büro Berlin weiter, um mit Norbert Merendan zu sprechen.
Angesichts der neuen Fakten musste er eigentlich einsehen, dass es besser war, mit uns zu kooperieren. Zumindest, wenn sein Anwalt etwas taugte und nicht ganz so verbohrt war, wie Merendan selbst.
Wir trafen Merendan in einem Besprechungszimmer. Sein Anwalt war ein korpulenter Mann in den mittleren Jahren, dem der Dreiteiler ziemlich stramm auf dem Leib saß. Ich nahm an, dass sein volles Haar nicht echt war war, dazu war es für sein Alter einfach zu üppig. “Mein Name ist Daniel J. Deggemann von Kemmerich, Deggemann & Partner”, stellte der Anwalt sich vor, woraufhin Rudi und ich ihm unsere ID-Cards zeigten.
“Wir untersuchen das Attentat auf MdB Johannes E. Moldenburg”, sagte ich. “In diesem Zusammenhang sind wir auf Ihren Mandanten gestoßen.”
“Mein Mandant hat sich nichts zu schulden kommen lassen”, sagte Deggemann.
“Den bewaffneten Angriff auf einen BKA-Kriminalinspektor würde ich nicht gerade als Kleinigkeit werten.”
“Sie haben sich Zutritt zu dem Haus verschafft, in dem mein Mandant wohnte und da Herr Merendan wiederholt unter dem durch Vorurteile und Ressentiments motivierten Handeln von Polizisten zu leiden hatte, entschloss er sich, nicht mit Ihnen zu sprechen.”
“Sie haben eine seltsame Weise, das auszudrücken, Herr Deggemann.”
“Zum Zeitpunkt, da es zu dieser unnötigen Eskalation kam, die schließlich zu den Schüssen und der Flucht im Wagen führte, lag da ein Haftbefehl gegen Herr Merendan vor?”
“Nein”, gab ich zu.
“Sie hatten also kein Recht ihn festzuhalten und trotzde-...”
Ich legte Merendan mein Smartphone hin. Auf dem Display war ein Standbild von den Videoaufnahmen zu sehen, die zeigten, wie er den falschen Elektriker durchwinkte.
Merendans Gesicht veränderte sich. Er wusste genau, was dieses Bild bedeutete. Diese erste Reaktion war für mich so gut wie ein Geständnis. Er konnte jetzt keinem von uns mehr etwas vormachen.
“Wir wissen, dass Sie dem Mann Zugang zur Veranstaltung verschafft haben, der mutmaßlich auf MdB Moldenburg geschossen hat. Wir wissen auch, dass Sie Mitglied von ‘German Sharia’ geworden sind und sich seitdem auch Idris Muhammad genannt haben. Und wenn Sie jetzt noch irgendetwas für sich herausholen wollen, dann sollten Sie jetzt mit uns reden, denn es geht hier noch um ganz andere Dinge, als um die Schüsse, die Sie auf mich abgegeben haben.”
Ich sprach einfach in den Redeschwall des Anwalts hinein. Und tatsächlich verstummte Deggemann schließlich, was ich ursprünglich kaum zu hoffen gewagt hatte. Entweder es geschahen doch noch Zeichen und Wunder, oder Deggemann hatte begriffen, dass ich recht hatte und es tatsächlich für seinen Mandanten das Beste war, mit uns zu kooperieren.
“Mann, ich bin in Panik geraten, als es plötzlich hieß, da ist das BKA!”, platzte es aus Merendan heraus. “Scheiße, ich hatte mal Probleme mit Drogen! Und im Knast habe ich einen Typen getroffen, der mich mit ‘German Sharia’ in Verbindung gebracht hat!”
“Reden Sie weiter!”, verlangte ich.
“Ich habe zum Glauben an Allah gefunden und bin von den Drogen weggekommen! Ohne den Glauben und meine Freunde bei ‘German Sharia’ hätte ich das nicht geschafft!”
“Und warum helfen Sie denen, einen MdB umzubringen?”, fragte Rudi.
“Die Maßnahmen, für die sich MdB Moldenburg so stark macht, trifft auch unschuldige Muslime! Zum Beispiel befürwortet er, dass die Amerikaner deutsche Basen für ihren Drohnenkrieg nutzen!”
“Jetzt kommen wir der Sache doch schon etwas näher”, meinte Rudi.
“Nein, vielleicht sollten wir die Unterhaltung hier abbrechen!”, meinte Deggemann.
Merendan ergriff nun wieder das Wort. “Hören Sie, ich bin schon lange nicht mehr Mitglied bei ‘German Sharia’! Ich habe den Glauben behalten, und ich bin den Jungs bis heute dankbar, weil sie mich von den Drogen befreit haben. Und was meinen neuen Namen betrifft, den trage ich auch schon lange nicht mehr. Das war eine Phase für mich, und die ist vorbei.”
“Dann stehen Sie den politischen Ideen von ‘German Sharia’ heute nicht mehr nahe?”
“Das habe ich nie. Ich fand es gut, ohne Drogen und Alkohol auszukommen, das ist alles. Die Kerle, die ich von damals kenne, sind immer noch meine Brüder, aber insgesamt hat sich ‘German Sharia’ in eine Richtung entwickelt, die ich nicht gutheißen kann.”
“Herr Merendan, bevor das Attentat auf den MdB verübt wurde, hat jemand die Stromversorgung in der Werner Bretzler Halle beschädigt. Das hatte nur einen Grund: Es sollte in der allgemeinen Verwirrung jemand eingeschleust werden, der anschließend auf den MdB schießen konnte.”
“Dafür haben Sie keine Beweise!”, unterbrach mich der Anwalt. “Und Sie sollten nichts darauf sagen, Herr Merendan!”
Ich deutete auf das Standbild, das den falschen Elektriker zeigte. “Um diesen Mann geht es! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn identifiziert haben, und dann ist Ihre Aussage nichts mehr wert. Anscheinend kennen Sie ihn. Die Aufzeichnung lässt kaum einen anderen Schluss zu. Und deswegen nehmen wir an, dass Sie für die Störung in der Stromversorgung gesorgt haben.”
“Das sind Unterstellungen”, sagte der Anwalt.
“Ausgerechnet zum in Frage kommenden Zeitraum sind Sie nicht auf Ihrem Posten am Eingang gewesen, tauchen aber rechtzeitig dort wieder auf, um den falschen Elektriker durchzuwinken. Die Stelle, an die die Leitung gekappt wurde, ist identifiziert und Sie können sich darauf verlassen, dass wir jede noch so kleine Spur dort in Speziallabors untersuchen werden. Eine Hautschuppe reicht, um Sie als denjenigen zu identifizieren, der den Strom unterbrochen hat. Es gibt Überwachungskameras in den Gängen, die es vermutlich erlauben, Ihren Weg dorthin zu identifizieren…”
“Jetzt will er Ihnen nur Angst machen, Herr Merendan”, behauptete der Anwalt. “Sagen Sie gar nichts!”
“Jeder, der das vorhandene Beweismaterial sieht, wird Sie für den Komplizen eines terroristischen Anschlags halten”, sagte Rudi. “Davon müssen Sie einfach ausgehen.”
“Also, wenn Sie reden wollen, dann jetzt, sonst braucht niemand mehr Ihre Aussage”, ergänzte ich.
“Die haben nichts in der Hand!”, versicherte hingegen Deggemann. “Hören Sie nicht auf die!”
Aber Merendan schien in diesem Punkt inzwischen anderer Ansicht zu sein. “Diesen Kerl auf dem Bild kenne ich nicht so gut, wie Sie denken”, sagte er. “Und ich bin auch kein Komplize bei einem Mordanschlag!”
“Reden Sie!”, verlangte ich.
“Wenn ich gewusst hätte, dass das damit zusammenhängt…”
“Das was womit zusammenhängt? Sie müssen Ross und Reiter nennen, sonst können wir nicht begreifen, was Sie meinen.”
Norbert Merendan atmete tief durch und beugte sich vor.
“Ich habe Sie gewarnt”, sagte Deggemann. “Schieben Sie es also nicht auf mich, wenn Sie sich in die Scheiße reiten.”
“Dass der Strom kurz vor einer Veranstaltung ausfällt, das passiert andauernd. Nicht jedesmal, das wäre zu auffällig, aber immer wieder. Ein Kollege sorgt dafür, dass ein Kabel bricht, kriegt dafür ein paar Euro von der Elektro-Firma. Und die stellt nachher eine saftige Rechnung für eine angeblich komplizierte Fehlersuche aus, obwohl von Anfang an bekannt war, wo der Fehler steckte.”
“Und diese Masche fliegt nicht auf?”, fragte ich.
“In der Situation sind die Veranstalter und die Betreiber des Hotels oder der Halle so dankbar dafür, dass sie die Veranstaltung nicht absagen müssen, dass das einfach so durchgeht. Außerdem sind das im Verhältnis zu den Gesamtkosten Mini-Beträge. Und dazu kommt noch, dass man das alles auf die maroden Elektro-Installationen schieben kann.”
“Wieso das?”
“Diese ganzen Hotelpaläste an der Ostsee sind in den Neunzigern billig hochgezogen oder aus alten DDR-Beständen renoviert worden. Kein Mensch hat auf Qualität geachtet. Diese Gebäude sollten eigentlich nur Geld verbrennen. Dass sie mal Profit abwerfen, damit hat niemand gerechnet. Die schlechte Qualität ist legendär. Es sind damals wohl massenhaft Leistungen abgerechnet worden, die nicht erbracht worden sind. Jeden Kabelbrand, jede Funktionsstörung und was da sonst noch so alles vorkommen kann, lässt sich mit großer Glaubwürdigkeit darauf schieben.”
“Das heißt jetzt im Klartext, Sie haben tatsächlich für den Stromausfall gesorgt”, stellte Rudi fest.
“Das gebe ich zu. Dieser Typ auf dem Bild hat mich am Tag vorher angesprochen. Ich habe gesagt, dass könnte ich nicht einfach so machen, sondern müsste erstmal den Kollegen fragen, der diese Dinge sonst organisiert.”
“Wer ist das?”
“Er heißt Thore Grantor. Er wird natürlich alles abstreiten.”
“Was hat Grantor gesagt?”
“Ich könnte das ruhig machen. Irgendwann sei sowieso das erste Mal, und ich sei jetzt eben dran.”
“Wie sind Sie danach mit diesem Mann wieder in Verbindung getreten?”
“Gar nicht. Er hat mich nach Dienstschluss nochmal angesprochen. Und dann habe ich es durchgezogen. Dass es etwas mit Terrorismus oder dem Mord an einem MdB zu tun hat, das konnte ich doch nicht ahnen!”
“Wir werden das überprüfen”, sagte ich.
“Heißt das, ich kann gehen?”, fragte Merendan.
“Das heißt es nicht.”
“Es gibt keinerlei Beweise gegen die Einlassungen meines Mandanten”, mischte sich nun wieder Deggemann ein. “Also können Sie auch nicht…”
“Ich persönlich glaube Ihrem Mandanten”, unterbrach ich Deggemann. “Aber selbst wenn sich seine Aussage in jedem Detail bestätigen sollte, was erst überprüft werden muss, dann bleibt immer noch der Umstand, dass er auf einen Polizisten geschossen hat. Ich will das keineswegs überdramatisieren, aber eine Zielscheibe zu sein, ist kein Spaß! Auch für mich nicht.”
“Tut mir echt leid”, meinte Merendan.
“Gut, dass Sie nicht getroffen haben”, gab ich zurück.
“Haben Sie von dem Kerl, der Ihnen den Auftrag für die Sabotage der Stromversorgung gegeben hat noch irgendein Detail in Erinnerung, das uns helfen könnte, ihn zu identifizieren?”, fragte Rudi.
“Seinen Namen hat er nicht gesagt.”
“Das dachten wir uns schon”, fuhr Rudi fort. “Aber vielleicht haben Sie eine Handynummer, oder Sie erinnern sich an den Wagen, den er gefahren hat, das Nummernschild, der Typ, irgendwelche besonderen Kennzeichnen an der Person selbst.”
“Mit seinem kleinen Finger rechts stimmte was nicht. Der war irgendwie… zu kurz. Verkrüppelt oder so.”
“Und sonst?”
Er überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. “Ich sag’ Ihnen Bescheid, wenn ich mich noch an was erinnere.”
20
Nachdem wir den Verhörraum verlassen hatten, telefonierte ich zuerst mit Förnheim. Es ging darum, die Angaben von Norbert Merendan zu bestätigen. Persönlich zweifelte ich nicht daran, dass seine Story der Wahrheit entsprach. Sie erschien mir zumindest sehr plausibel. Aber der Teufel steckte häufig im Detail.
Danach telefonierte ich mit Lin-Tai Gansenbrink in Quardenburg. Es ging jetzt in erster Linie darum, dass der Mann mit dem verkürzten Finger identifiziert wurde, denn das war mit großer Wahrscheinlichkeit der Täter.
Zumindest der ausführende Täter.
Dass er nur auf sich allein gestellt gehandelt hatte, war hingegen nicht anzunehmen. Vielmehr war es wahrscheinlich, dass er nur Teil eines größeren Netzwerkes war.
“Ich habe alle Datenbanken durchforstet, die dafür in Frage kommen, Harry”, erklärte mir Lin-Tai. “Die Merkmale Körpergröße plus verkürzter kleiner Finger ergeben leider keinen Treffer. Jedenfalls nicht gemeinsam.”
“Das heißt, unser Täter ist noch nicht erkennungsdienstlich behandelt worden”, stellte ich fest.
“Falls das der Fall ist, haben wir schlechte Karten. Wir können natürlich Anfragen an das Ausland richten. Aber Sie wissen ja, wie das ist. So etwas kann etwas länger dauern. Und selbst in den Datenbanken ausländische Polizeieinheiten herumzuforschen ist zwar möglich, aber…”
“Ich weiß schon, Lin-Tai. Unerlaubt.”
“Ich wollte eigentlich sagen uferlos”, gab Lin-Tai zurück. “Einen kleinen Anhaltspunkt, in welchem der 194 Staaten auf der Welt man anfangen sollte, wäre da natürlich nicht schlecht.”
“Das klingt nicht danach, als könnten wir da mit schnellen Erfolgen rechnen.”
“Ich fürchte, wir brauchen zusätzliche Informationen über den Killer. In der Liste der international gesuchten Terror-Verdächtigen und in der erweiterten Liste der sogenannten Gefährder gibt es mehrere Dutzend Personen, deren Körpergröße exakt mit der des Verdächtigen auf dem Video übereinstimmt. Es gibt sogar einen mit einem verkürzten kleinen Finger - allerdings an der falschen Hand. Und abgesehen davon sitzt der Kerl auch seit vier Jahren in einem französischen Gefängnis.”
“Ich wette, Sie können da noch einiges rausholen…”
“...wenn ich meine Filter und Algorithmen etwas verfeinere?”
“So ungefähr hatte ich mir das vorgestellt, Lin-Tai.”
“Ich werde ein verfeinertes telemetrisches Vergleichsprogramm auf die Terrorverdächtigen anwenden, das weitere Messungen miteinbezieht. Zum Beispiel das Verhältnis der Arm- zur Beinlänge und solche Dinge. Alles, was sich anhand von Fotos feststellen oder berechnen lässt. Aber das dauert. Und ich kann keinen Erfolg versprechen.”
“Schade. Sie klingen sonst etwas optimistischer.”
“Harry, was mich nach wie vor beunruhigt, sind die mathematischen Ausbreitungsmuster bestimmter Reaktionen in den sozialen Netzwerken, die einfach dieses Mal nicht auftreten. Ich dachte zuerst, dass es vielleicht eine verzögerte Reaktion gibt.”
“Die ist nicht eingetreten?”
“Null Komma Null! Gar nichts! Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, dass die ganze Fahndung vielleicht in eine vollkommen verkehrte Richtung gehen könnte?”
“In dieser Gefahr steht man immer.”
“Wir sollten diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen.”
21
Etwas später besuchten wir die Klinik, in der MdB Moldenburg untergebracht worden war.
Über seinen Zustand waren wir laufend informiert worden und so wussten wir auch, dass vorerst keine Chance bestand, den MdB zu vernehmen. Es war ja schließlich möglich, dass MdB Moldenburg noch irgendetwas über seine persönliche Bedrohungslage wusste, was uns jetzt weiterhelfen konnte. Sein Leibwächter hatte schließlich von Drohmails gesprochen. Möglicherweise hatte es schon in der Zeit vor dem Attentat irgendwelche Auffälligkeiten gegeben. Kleine Beobachtungen, denen man keine Bedeutung beigemessen hatte und die jetzt vielleicht in einem anderen Zusammenhang plötzlich wichtig wurden.
Schließlich wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass das Opfer eines derartigen Anschlags zuvor gründlich ausspioniert worden war.
Wir sprachen noch einmal mit den Ärzten. Aber die machten uns wenig Hoffnung.
“MdB Moldenburg kann froh sein, dass er noch lebt. Und wenn unser Kollege Dr. Wildenbacher nicht sofort so entschieden eingegriffen hätte, dann wäre jede Hilfe zu spät gekommen”, äußerte sich Dr. Luise Meckenroth, eine Neurologin. “Leider können wir keine seriösen Angaben darüber machen, ob und wenn ja, wann der MdB wieder vernehmungsfähig sein wird. Bleibende Schäden kann man ebenfalls nicht ausschließen.”
“Wir müssen weiterhin ständig über den Gesundheitszustand des Patienten auf dem Laufenden gehalten werden”, verlangte ich.
“Das ist selbstverständlich.”
“Es gelten außerdem höchste Sicherheitsvorkehrungen. Wir können nicht ausschließen, dass der Täter oder die Gruppe, die hinter ihm steht, noch versuchen werden, das Attentat zu vollenden.”
Dr. Meckenroth seufzte. “Ich kann nicht gerade sagen, dass ich besonders glücklich darüber bin, dass hier so viel Polizei herumläuft und man überall kontrolliert wird.”
“Das ist leider unumgänglich.”
“Unsere Klinik ist kein Hochsicherheitstrakt”, erklärte Dr. Meckenroth.
“Für eine Weile werden Sie diese Unannehmlichkeiten hinnehmen müssen”, meinte Rudi.
“Dann hoffe ich schon aus diesem Grund, dass Sie den Täter schnell fassen.”
“Nicht einmal für diesen Fall kann ich Ihnen garantieren, dass die Sicherheitsmaßnahmen dann nicht mehr nötig sein werden”, gab ich zurück.
“Übrigens ist Frau Moldenburg hier. Sie hat den Wunsch geäußert, mit Ihnen beiden zu sprechen.”
22
Wenig später trafen wir Frau Moldenburg. Für sie und Moldenburgs gesamte Familie war ebenfalls die höchste Sicherheitsstufe angeordnet worden. Schließlich war ja nicht auszuschließen, dass auch sie zur Zielscheibe der Gewalt wurden.
“Glauben Sie, dass Sie den Täter bald fassen?”, fragte sie mit tonloser Stimme.
“Ich kann Ihnen versichern, dass wir unser Bestes tun”, sagte ich.
“Ich habe mich etwas erkundigt. Mein Mann hat als MdB ein paar spezielle Kanäle, um Informationen einzuholen, wenn Sie verstehen, was ich meine.”
“Ich kann es mir denken”, sagte ich.
“Sie und Ihr Kollege genießen einen sehr guten Ruf. In so fern ist der Fall bei Ihnen wahrscheinlich in guten Händen.”
“Danke. Es freut mich, dass Sie das so sehen.”
“Mein Mann war es gewöhnt, das Ziel von Hass-Attacken zu werden - auch wenn diese bislang nur verbaler Natur gewesen sind. Meistens zumindest. Er hat aus seinen Auffassungen nie einen Hehl gemacht und sich nicht gescheut, dafür einzutreten. Das ist dann wohl der Preis, den man dafür zahlen muss…”
“Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche Beobachtungen gemacht, die vielleicht darauf hindeuten könnten, dass Sie beobachtet wurden?”, fragte ich.
Frau Moldenburg hob den Kopf. Sie sah mich einige Augenblicke lang nachdenklich an und schüttelte dann entschieden den Kopf. “Nein, nicht, dass ich mich entsinnen könnte.”
“Wir suchen gegenwärtig diesen Mann hier”, erklärte ich ihr dann und zeigte ihr auf dem Smartphone ein Standbild aus den Video-Aufzeichnungen, das den Mann mit dem verkürzten kleinen Finger zeigte.
“Man sieht nicht sehr viel von seinem Gesicht.”
“Leider, da haben Sie recht. Er könnte Ihnen durch einen verkürzten oder verkrüppelten kleinen Finger aufgefallen sein.”
“Vielleicht jemand, der etwas vorbeigebracht hat”, sagte Rudi. “Ein Paketbote, ein Gärtner oder jemand, den Sie vielleicht für einen Reporter gehalten haben.”
“Sie meinen jemanden, der einen Grund gehabt hätte, in unserer Nähe zu sein?”, begriff Frau Moldenburg sofort. “Ich kann jetzt nicht unbedingt behaupten, dass ich bei jedem Menschen in meiner Umgebung darauf achte, ob seine Finger vollzählig sind, aber ich denke eigentlich, dass mir das aufgefallen wäre.” Sie schluckte. “Ich hoffe nur, dass er wieder aufwacht.”
“Das hoffen wir auch”, sagte ich.
“Der Arzt, der so beherzt eingegriffen hat, nachdem mein Mann getroffen wurde …”
“Dr. Wildenbacher.”
“Er soll ein Kollege von Ihnen sein. Wenn Sie Ihn treffen, dann grüßen Sie ihn bitte von mir.”
23
Dr. Gerold Wildenbacher war nach Quardenburg zurückgekehrt. Dass er sich ein paar Tage frei nehmen sollte, empfand er nicht unbedingt als beglückende Aussicht. Anstatt nach Hause zu fahren, ging er erstmal in ein bayerisches Steak-House mit dem Namen “Riendviecherl”.
Nachdem er gegessen hatte, verließ er das Lokal. Den Wagen hatte er in einer Seitenstraße geparkt. Sein Smartphone klingelte.
“Ja?”
“Hier ist Veronika”, sagte eine Stimme an seinem Ohr.
Seine Schwester Veronika war die einzige Person in seiner Familie, zu der er noch Kontakt hatte. Sie telefonierten ab und zu miteinander. Ansonsten war Wildenbacher eher ein Einzelgänger. Die Arbeit bedeutete ihm alles. Er lebte allein.
“Was gibt es, Veronika?”
“Das fragst du mich? Gerold, du hättest dich ruhig mal melden können seit…”
“Seit was?”
“Seit der Sache mit dem MdB. Ich meine, das geht ja durch alle Medien und was glaubst du, wessen Gesicht ich da auf der ersten Zeitungsseite auf einem großformatigen Foto gesehen habe!”
“Veronika, es ist bei mir alles in Ordnung.”
“Ja, das habe ich auch gelesen. Aber um ein Haar hätte es dich erwischen können! Ich meine, du hast doch praktisch ganz in der Nähe einer Person gesessen, die offenbar die Zielscheibe eines irren Killers war.”
“Du irrst dich, Veronika. Das größte Risiko war für mich ein Hygienisches. Nichts, was mit Kugeln und Waffen zu tun hatte.”
“Wie bitte?”
“Wegen dem Blut des MdBs, das ja in Strömen geflossen ist. Ich hatte keine Latexhandschuhe dabei. HIV, Gelbsucht und ein paar andere unerfreuliche Dinge kann man sich über den ungeschützten Kontakt mit Blut holen. Zumindest, wenn man irgendwo eine offene Wunde hat oder über die Schleimhäute von Augen, Nase und Mund, wenn es einem ins Gesicht spritzt.”
“Du hast schon eine eigenartige Art und Weise, über diese Dinge zu reden, Gerold.”
“Berufskrankheit. Jedenfalls gehe ich davon aus, dass der MdB nichts Ansteckendes hatte und ich hoffe, dass er durchkommt und mein Eingreifen nicht umsonst war.”
“Gerold, ich…”
Wildenbacher hatte sich unterdessen seinem Wagen bis auf etwa ein Dutzend Meter genähert. Er streckte die Hand aus und betätigte den elektronischen Signalgeber seines Wagenschlüssels.
Die Lampen leuchteten auf.
Der Wagen war entsperrt.
Wildenbacher blieb stehen. “Veronika, es hat in der reißerischen Darstellung in den Medien ein paar Übertreibungen gegeben, die nicht wirklich widerspiegeln, was passiert ist.”
“Trotzdem, Gerold…”
“Ich habe letztlich nur meine Pflicht als Arzt getan. Auch wenn ich mich überwiegend mit Patienten beschäftige, für die leider schon jede Hilfe zu spät kommt und man mir nachsagt, dass jemand mit meinem sensiblen Gemüt sich auch besser ausschließlich auf die Therapierung von Toten beschränken sollte, aber…”
In diesem Moment explodierte der Wagen. Eine Feuersbrunst riss das Fahrzeug förmlich auseinander. Wildenbacher spürte, wie eine Welle aus Hitze und Druck ihn erfasste.
Im nächsten Moment lag er auf dem Boden. Sein Smartphone befand sich gut drei Meter von ihm entfernt.
“Gerold?”, fragte die Stimme seiner Schwester aus dem Gerät heraus. “Gerold, was ist los?”
24
Wir erfuhren von der Explosion in Quardenburg, als wir ins Hauptpräsidium zurückgekehrt waren und Kriminaldirektor Hoch Bericht erstattet hatten.
Wir machten uns natürlich gleich auf den Weg. Von Berlin braucht man eine gute Dreiviertelstunde bis Quardenburg. Und bei ungünstigen Verkehrsverhältnissen muss man noch etwas dazu addieren.
Aber wir hatten Glück und kamen gut durch. Als wir den Ort des Geschehens erreichten, herrschte dort längst Hochbetrieb. Jede Menge Einsatzfahrzeuge der örtlichen Polizei und der Feuerwehr waren vor Ort. Außerdem etliche Kollegen der Dienststelle Reichenberg. Spurensicherer gingen ihrem Job nach. Das ganze Gebiet war großflächig abgesperrt worden. Ich stellte den Dienst-Porsche am Straßenrand ab und hatte Glück, überhaupt noch eine Lücke zu finden.
Die uniformierten Kollegen winkten uns durch, nachdem wir unsere Ausweise gezeigt hatten.
Wir fanden Dr. Wildenbacher im Gespräch mit einem Kollegen, bei dem es sich wohl um einen Kommissar aus Reichenberg handelte.
“Kriminalhauptkommissar Sören Rüttli”, stellte sich der Kollege vor. “Ich habe hier die Einsatzleitung.”
“Kriminalinspektor Rudi Meier”, erwiderte Rudi und deutete auf mich. “Dies ist mein Kollege Kriminalinspektor Harry Kubinke.”
Ich wandte mich unterdessen direkt an Wildenbacher.
“Ich hoffe, Ihnen ist nichts passiert”, sagte ich.
“Abgesehen davon, dass meine Kleidung etwas ramponiert aussieht und ich im ersten Moment dachte, dass der Knall mich für immer taub gemacht hätte, geht es mir gut”, sagte Wildenbacher.
“Ich dachte, Sie wären jetzt zu Hause und würden sich etwas Ruhe gönnen.”
“Dazu ließ sich Dr. Wildenbacher leider nicht überreden”, sagte Kommissar Rüttli. “Genauso wenig, wie ich ihn davon überzeugen konnte, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen.”
“Ich bin selber Arzt und kann sehr wohl beurteilen, ob es mir gut geht”, knurrte Wildenbacher. “Und davon abgesehen werden Sie Verständnis dafür haben, dass es mich brennend interessiert, wer mich da in die Luft fliegen lassen wollte. Also möchte ich gerne hier am Tatort bleiben, um als einer der ersten mitzubekommen, wenn es neue Erkenntnisse gibt.”
“Was genau ist passiert?”, fragte ich.
“Ich habe da drüben ein Steak gegessen, bin zum Wagen gegangen, habe ihn aus einer Entfernung von vielleicht zwanzig Meter aufgeschlossen und dann rief meine Schwester an.”
“Unsere Erkennungsdienstler meinen, dass ihm das das Leben gerettet haben könnte”, meine Kommissar Rüttli.
“Wieso das?”, hakte ich nach.
“Wir gehen bisher davon aus, dass der Sprengsatz, der an Dr. Wildenbachers Wagen angebracht wurde, auf den Signalgeber am Schlüssel reagiert hat. Und zwar Zeitverzögert.”
“Was ja auch Sinn macht, wenn man jemanden in die Luft jagen will”, ergänzte Wildenbacher. “Ich meine, die meisten Leute machen das doch so: Sie öffnen genau wie ich die Tür, gehen dann zum Wagen und setzen sich rein. Die Bombe darf also nicht zu früh losgehen, was aber in diesem Fall passiert ist, weil Veronika mich angerufen hat und ich deswegen stehen geblieben bin, um mich auf das Gespräch zu konzentrieren.”
“Haben Sie eine Ahnung, wer Sie so hasst, dass er Ihnen das antun will, Gerold?”, fragte ich.
“Vielleicht war es ja ein Irrtum”, meinte Wildenbacher.
“Sie sitzen neben einem MdB, auf den geschossen wird und kurze Zeit später jagt jemand Ihren Wagen in die Luft, in dem Sie um ein Haar gesessen hätten.”
“Naja…”
”Gerold, das ist kein Zufall mehr!”
Wildenbacher zuckte mit den breiten Schultern. “Sie kennen mich. Ich bin rau aber herzlich. Und ich gebe zu, dass ich mir in der Vergangenheit nicht nur Freunde gemacht habe. Aber ehrlich gesagt fällt mir im Moment niemand ein, der…”
Mein Smartphone klingelte. Ich nahm das Gespräch entgegen. “Einen Moment, Sie entschuldigen mich mal eben”, sagte ich.
Ich hatte Lin-Tai Gansenbrink am Apparat.
“Harry, wie ich sehe, sind Sie gerade hier in Quardenburg.”
“Wie können Sie das sehen? Haben Sie mein Handy getrackt?”
“Es wäre gut, wenn Sie so schnell wie möglich in die Bundesakademie kommen.”
“Gibt es etwas Neues?”
“Und bringen Sie Wildenbacher ruhig mit, der steht vermutlich gerade unmittelbar neben Ihnen. Ach, noch was: Nein, ich habe Wildenbachers Handy nicht auch noch getrackt, dessen bayerisches Geknurre erkenne ich selbst bei mäßiger Übertragungsqualität sofort.”
Wildenbacher hatte während des kurzen Gesprächs, das ich mit Lin-Tai geführt hatte, die Unterhaltung mit Rudi und Kommissar Rüttli fortgesetzt.
“Was hat Gerold mit dem zu tun, was Sie mir zeigen wollen?”, fragte ich Lin-Tai.
“Es geht darum, wer heute sein Auto in die Luft gejagt und in Wismars auf MdB Moldenburg gefeuert hat.”
“Wir sind gleich bei Ihnen.”
25
Da Rudi und ich mit dem Dienst-Porsche unterwegs waren, konnten wir Dr. Wildenbacher leider nicht mitnehmen. Für eine dritte Person bot der Wagen einfach keinen Platz.
Wir fuhren also zur BKA Bundesakademie und Wildenbacher ließ sich von einem Dienstwagen der örtlichen Polizei mitnehmen.
Etwa später erreichten wir Lin-Tais Arbeitszimmer. Auf einem Großbildschirm begrüßte uns Dr. Friedrich G. Förnheim, zu dem eine Videochatverbindung geschaltet war. Förnheim befand sich nämlich immer noch in Wismar. Im Hintergrund des Kameraausschnitts erkannte ich Merkmale der Werner Bretzler Halle wieder.
“Da nun alle versammelt sind, können wir ja wohl beginnen”, meinte Förnheim. “Sie sehen ein bisschen ramponiert aus, Gerold. Aber ich bin froh, dass Ihnen anscheinend nichts Ernsthaftes passiert ist!”
“Danke für Ihre Anteilnahme”, knurrte Wildenbacher. “Und jetzt mal die Karten auf den Tisch! Was ist hier los?”
“Ich hätte früher darauf kommen müssen”, sagte Förnheim. “Oder besser gesagt: Ich bin durchaus darauf gekommen, habe es aber erst nicht glauben können. Manchmal ist das so, dass man das offensichtliche nicht wahrnimmt oder falsch interpretiert, nur weil…”
“Für langes Gequatsche habe ich jetzt keinen Nerv”, unterbrach ihn Wildenbacher. “Wie Sie vielleicht bemerkt haben, hatte ich keinen guten Tag heute. Also sagen Sie einfach, was Sie herausgefunden haben.”
“Zumindest sollte ich aber erwähnen, dass unsere geschätzte Kollegin Lin-Tai, mit der ich die letzten paar Stunden intensiv Daten ausgetauscht habe, an der Sache einen ebenso großen Anteil hat wie ich”, erklärte Förnheim. “Um es kurz zu machen: Lin-Tai und ich haben die Video-Aufnahmen des Attentats, die aus unterschiedlichen Kameraperspektiven entstanden sind in einer Simulation zusammengefügt. Von Interesse war dabei insbesondere die Bestimmung der exakten Schussbahn. Dabei hat uns der glückliche Umstand geholfen, das der Täter eine lasergestützte Zielerfassung benutzt hat.” Auf dem Bildschirm, auf dem bisher nur Förnheim zu sehen gewesen war, teilte sich jetzt ein Fenster ab, Förnheim selbst wurde stark verkleinert, während nun ein Standbild aus dem Augenblick des ersten Schusses gezeigt wurde. Zumindest stand dies als Untertitel im unteren Drittel des Bildes. Die Schusslinie war deutlich hervorgehoben. Man konnte sehen, dass der Leibwächter sich bereits auf MdB Moldenburg gestürzt und dabei Dr. Wildenbacher seitwärts gerissen hatte. “Mir waren schon bei meinen ersten Untersuchen zur Schussbahn, die ich am Tatort durchgeführt habe, ein paar Ungereimtheiten aufgefallen”, fuhr Förnheim fort. “Und mit Hilfe von Lin-Tais Berechnungen habe sich diesen Bedenken nun bestätigt. Es läuft letztlich auf zwei mögliche Erklärungen für das Geschehen hinaus. Die erste wäre, dass der Täter einfach ein sehr, sehr schlechter Schütze war.”
“Ist das denn so abwegig?”, meinte Rudi.
“Ja, ich weiß, was Sie sagen wollen, Rudi: Ein fanatischer Dschihad-Kämpfer, der glaubt, dass die religiöse Inbrunst eine gute Schießausbildung ersetzt. Jemand, der sich die 72 Jungfrauen im Paradies vorstellt, die ihn erwarten und dann vor lauer Testosteron-Ausschüttung die Waffe nicht mehr ruhig halten kann. Aber ganz ehrlich: Ich glaube eher an die zweite Möglichkeit.” Das Bild veränderte sich. Jetzt war die Perspektive leicht verändert. Es wurde die Szenerie abgebildet, wie sie offenbar nur wenige Sekunden zuvor gewesen war. “Ich überblende jetzt mit der tatsächlichen Schussbahn, die wie im Bild zuvor farbig hervorgehoben wird. Beachten Sie allerdings, dass der Schuss in diesem Moment noch nicht stattgefunden hat, sondern erst eine Sekunde später.” Die Schusslinie erschien. Und Sie endete genau dort, wo sich zu diesem Zeitpunkt die Herzgegend von Dr. Gerold Wildenbacher befand.
“Was wollen Sie damit sagen, Friedrich?”, fragte der Pathologe fast flüsternd, denn auch ihm dämmerte jetzt die Erkenntnis.
“Ich würde sagen, die plausibelste Erklärung für den Ablauf der Geschehnisse ist, dass nicht der MdB, sondern Sie das eigentliche Ziel des Anschlags waren, Gerold”, stellte jetzt Lin-Tai fest.
“Der Leibwächter hat den Laserpointer bemerkt und eingegriffen”, ergänzte Förnheim. “Und zwar ziemlich rustikal! Dadurch ist, wie wir sehen konnten, eine chaotische Situation entstanden, die für den Schützen nicht mehr zu berechnen war.”
“Und der MdB ist nur quasi aus Versehen ins Koma geschossen worden?”, hakte Wildenbacher ungläubig nach. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
“Ich wollte es erst auch nicht glauben”, meinte Förnheim. “Und wenn ich ehrlich bin, dann war ich zu Anfang vielleicht sogar etwas betriebsblind. Wir waren alle zu sehr auf die Möglichkeit festgelegt, dass der MdB das Ziel des Attentats sein muss. Die wichtigste Person im Saal muss schließlich auch das bevorzugte Ziel eines Attentäters sein! Aber das war ein Trugschluss, fürchte ich und ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Gerold.”
Wildenbacher runzelte die Stirn. “Entschuldigen?”, echote er etwas irritiert. “Wofür das denn?”
“Wenn ich meinem Instinkt gleich gefolgt wäre und das früher erkannt hätte, wäre es vielleicht nicht dazu gekommen, dass Ihnen jemand den Wagen in die Luft sprengt.”
“Wenn das wahr ist, beginnt für uns der Fall wieder von vorn”, stellte ich fest.
26
“Was nimmst du?”
“Wie immer.”
“Du bist auch keiner, der die Abwechslung liebt, was?”
“Nicht, was Drinks angeht.”
Der Mann mit den verkürzten Finger saß in einer Bar in Berlin. Die Einrichtung erinnerte an einen irischen Pub. Der Mann hinter dem Tresen stellte ein Glas hin. Aber der Mann mit dem verkürzten Finger achtete nicht darauf. Er sah zu den Fernseher, der im Hintergrund lief. Es kamen die lokalen Nachrichten.
“Hey, mach mal lauter!”
“Seit wann interessiert dich, was in der großen weiten Welt passiert?”
“Quatsch nicht so viel und mach lauter!”
“Nur weil du es bist!”
“Weder die Polizei von Quardenburg noch das BKA machten Angaben dazu, ob es bei der Explosion der Autobombe Opfer gegeben hat”, sagte die Sprecherin im Studio. “Mein Kollege Achim Hänsels ist vor Ort. Achim, die Ermittlungsbehörden geben sich sehr zugeknöpft. Können Sie das bestätigen?”
“Ja, es gibt nur das sehr dürre Statement eines BKA-Pressesprechers. Dabei wird insbesondere keine Angabe dazu gemacht, ob der Besitzer des explodierten Fahrzeugs zum Zeitpunkt der Detonation bereits im Fahrzeug saß oder nicht. Ich habe selbst mit Anwohnern gesprochen und dazu sehr widersprüchliche Aussagen bekommen. Wir werden also weiterhin auf eine offizielle Stellungnahme warten müssen.”
“Achim, es soll inzwischen Gerüchte darüber geben, wer der Besitzer des explodierten Fahrzeugs ist.”
“Ja, unbestätigten Meldungen zu Folge soll es sich um einen Gerichtsmediziner handeln, der an der BKA Bundesakademie hier in Quardenburg tätig ist. Näheres konnte unser Team bisher leider noch nicht in Erfahrung bringen…”
“Schlimm, was da wieder passiert ist”, meinte der Kerl hinter der Bar.
“Ja”, murmelte der Mann mit dem verkürzten Finger, dessen Hand jetzt um das Glas fasste und es gedankenverloren zum Mund führte.
“Ich finde man sollte mehr gegen den weltweiten Terrorismus tun. So wie der MdB, auf den kürzlich geschossen wurde! Ich komme jetzt nicht auf den Namen, aber sein Gesicht war oft im Fernsehen…”
“Jeder versucht sein Bestes”, sagte der Mann mit dem verkürzten Finger und stellte sein Glas auf den Tresen.
27
Rudi und ich konnten Wildenbacher dazu überreden, in dieser Nacht nicht zu Hause zu übernachten. Was auch immer der Grund dafür sein mochte, dass er offensichtlich auf irgendeiner Todesliste stand, es war damit zu rechnen, dass es nicht bei diesem Versuch bleiben würde.
Wildenbacher wurde von zwei BKA-Kommissaren nach Hause begleitet und packte ein paar Sachen. Anschließend brachte man ihn zu einer konspirativen Wohnung im Südwesten von Berlin. Das BKA unterhält solche Wohnungen, um beispielsweise gefährdete Zeugen kurzfristig sicher unterbringen zu können. Die beiden Kommissare würden dafür regelmäßig abgelöst werden. Wildenbacher stand unter BKA-Schutz, auch wenn ihm das überhaupt nicht gefiel. Mein Eindruck war, dass er viel lieber einfach seinem Job in der Quardenburger Bundesakademie nachgegangen wäre.
Rudi und ich verließen Quardenburg etwas später als Wildenbacher und seine Bewacher. Mit Lin-Tai sprachen wir zuvor noch ausführlich darüber, unter welchen Kriterien jetzt die Suche nach dem Attentäter weitergehen sollte.
Kurz nachdem wir Quardenburg verlassen hatten, bekamen wir einen Anruf von Kriminaldirektor Hoch.
“Der MdB ist gerade gestorben”, erklärte unser Chef. “Wenn Sie nachher noch zu Wildenbacher fahren, dann bringen Sie ihm möglichst schonend bei, dass seine Erste-Hilfe-Bemühungen letztlich vergebens gewesen sind.”
“Wildenbacher wird das schon verkraften”, meinte ich.
“Ich könnte mir denken, dass ihm das alles sehr viel mehr an die Nieren geht, als er sich das nach außen anmerken lässt”, vermutete Kriminaldirektor Hoch. “Und für uns bedeutet das, dass der Druck der Öffentlichkeit noch erheblich wachen wird. In einer halben Stunde gibt es eine Pressekonferenz, auf der die Nachricht von Moldenburgs Tod offiziell bekannt gegeben wird. Und danach wird hier der Teufel los sein! Darauf kann man wetten.”
“Wildenbacher ist der Schlüssel zu dem Fall”, sagte ich. “Und es muss etwas mit dem Mord an Franz Lutterbeck zu tun haben, der schließlich mit derselben Waffe getötet wurde, mit der auf den MdB gefeuert wurde.”
“Jedenfalls können wir uns wohl nicht mehr sicher sein, dass dies wirklich ein Fall ist, der irgendetwas mit internationalem Terrorismus zu tun hat”, meinte Kriminaldirektor Hoch. “Aber wer immer so etwas jetzt in der Öffentlichkeit verkündet, dem wird man dann vorhalten, dass da nur irgendetwas vertuscht werden soll.”
“Wir werden mit Wildenbacher sprechen”, versicherte ich. “Wenn jemand Lutterbeck und Wildenbacher tot sehen will, dann muss die beiden noch mehr verbinden als der Geburtsort in Bayern und die gemeinsame Zeit auf der Gesamtschule.”
“Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, dass es in Bayern überhaupt Gesamtschulen gibt.”
“Die Zeiten ändern sich!”
“Anscheinend.”
“Ich meine, es ist ja eine Weile her, dass Gerold Wildenbacher zur Schule ging!”
Rudi hatte mit Handy im Internet recherchiert. “Die Schule, auf die Wildenbacher und Lutterbeck gingen war eine traditionsreiche Privat-Gesamtschule. Und er hat bei früherer Gelegenheit mir gegenüber mal erwähnt, dass er zuvor vom Gymnasium runtergeflogen ist. Wegen problematischem Sozialverhalten.”
“So?”
“Er hat sich viel geprügelt.”
“Kann ich mir bei unserem sanftmütigen Doc kaum vorstellen!”
“Ist so. Aber du kannst ihn ja selber mal danach fragen.”
“Besser ein andernmal.”
“Ich glaube auch...”
28
Wir brachten etwas Fast Food mit, als wir die Wohnung erreichten, in der Wildenbacher jetzt erstmal untergebracht werden würde. Die beiden Kommissars, die zu seiner Bewachung abgestellt waren, freuten sich zumindest darüber. Rudi und mir knurrte ebenfalls der Magen. Nur Wildenbacher schien kaum Appetit zu haben.
Er ging die ganze Zeit auf und ab.
“Denken Sie nach, Gerold! Wer könnte gleichzeitig Sie und Franz Lutterbeck im Visier gehabt haben?”, verlangte ich. “Wir haben immer nach Gemeinsamkeiten zwischen MdB Moldenburg und Lutterbeck gesucht, aber das war eine Sackgasse.”
“Franz Lutterbeck war ein sehr guter Staatsanwalt und in dieser Eigenschaft hatten wir in einer ganzen Reihe von Fällen miteinander zu tun”, sagte Wildenbacher.
“Auch Fälle, in denen Verurteilungen vielleicht auf Ihren gerichtsmedizinischen Gutachten basierten?”, hakte ich nach.
“Das waren sogar in der Regel Fälle, in denen meine Gutachten ganz erheblich zu den Verurteilungen der Täter beigetragen haben. Vom irren Triebtäter bis zum Clan-Boss war alles dabei. Und davon abgesehen liegen diese Fälle auch alle schon länger zurück. Schließlich hat Lutterbeck dann ja eine anderen Weg eingeschlagen und ist zu einer Art juristischen Koryphäe der Regierung geworden oder wie immer man das auch beurteilen will.” Wildenbacher fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Dann fuhr er fort: “Bevor ich da jetzt selbst was aus dem Hut zaubere, wird Lin-Tai mit Sicherheit eine Liste der Fälle zusammengestellt haben, an denen Franz und ich gemeinsam in irgendeiner Form beteiligt waren.”
“Das Problem ist, dass wir jetzt wieder ganz von vorne anfangen”, meinte Rudi. “Dass sich jemand an einem Juristen und einem Gerichtsmediziner für eine Verurteilung rächen will, ist ja auch nur eine Mutmaßung. Und davon abgesehen könnte es ja ebenso einen Fall betreffen, in dem Lutterbeck als Strafverteidiger und Anwalt tätig war.”
“Wir kennen den Killer”, stellte ich fest. “Und wir haben mit Norbert Merendan jemanden, der ihm persönlich begegnet ist. Wir kennen ein wichtiges körperliches Merkmal von ihm, auch wenn sein Bild nicht gerade besonders brauchbar ist… Dieser Kerl mit dem verkürzten Finger sollte nach wie vor unser Hauptansatzpunkt sein.”
“Ich nehme an, die Kollegen vom BKA-Büro Berlin haben mit Merendan ein Phantombild erarbeitet”, meinte Rudi. “Morgen früh sollten wir mal nachfragen.”
“Eins steht fest: Der Täter hat sehr professionell agiert”, sagte ich. “Die Tat war gut vorbereitet. Ich halte es sogar für möglich, dass er absichtlich jemanden dafür sorgen ließ, der einer islamistischen Sekte angehört hat wie Merendan, sodass man die Hintergründe der Tat in einer ganz anderen Richtung sucht. Selbst wenn er Gerold getroffen hätte, hätte man doch zuerst gedacht, dass eigentlich der MdB gemeint gewesen sein könnte. In so fern war auch der Zeitpunkt des Anschlags äußerst geschickt gewählt…”
“...wenn man davon ausgeht, dass tatsächlich von einer anderen möglichen Ermittlungsrichtung bewusst abgelenkt werden sollte”, ergänzte Rudi.
“Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Harry?”, fragte Wildenbacher.
“Wenn das kein Terrorist war, war das ein Profi-Killer”, sagte ich. “Und wer kann sich so jemanden leisten? Wer hat - abgesehen von terroristischen Netzwerken - noch die nötige Infrastruktur, um so ein Attentat planen und durchführen zu können?”
“Nur das organisierte Verbrechen”, meinte Rudi.
“Das ist nicht irgendein einsamer Rächer, der da eine persönliche Todesliste abarbeitet. Der arbeitet für jemanden, der sehr mächtig ist. Und da frage ich Sie, wer würde Ihnen da einfallen, Gerold? Mit wem haben Sie und Lutterbeck sich gleichermaßen so angelegt, dass er sie beide tot sehen will.”
“Und vielleicht noch andere”, meinte Rudi. “Es ist ja nicht auszuschließen, dass auf dieser Liste noch andere stehen, die mit Ihnen in irgendeiner Weise dasselbe Schicksal teilen.”
“Wie gesagt, dass soll Lin-Tai herausfinden”, meinte Wildenbacher gereizt. “Ich weiß doch oft gar nicht die genauen Hintergründe eines Falls. Da kommt was zu mir auf den Seziertisch, mit dem die Kollegen irgendwo in Deutschland nicht zurecht kommen, ich nehme mein Skalpell und stochere noch mal drin herum oder mache eine zusätzliche Analyse, um Licht ins Dunkel zu bringen. Aber über die genauen Hintergründe des Falls weiß ich doch sehr häufig gar nicht Bescheid.”
“Ist schon klar, Gerold.”
“Meine Aufgabe ist es schließlich in der Regel, die Todesursache herauszubekommen oder irgendeine andere, klar umrissene Fragestellung zu beantworten. Wurde Herr X zuerst verprügelt und dann gewürgt oder umgekehrt? Auch wenn das in der Praxis dann häufig zur Aufklärung eines Falles führt, ist diese Aufklärung einfach nicht mein Job!”
“Sind Sie in letzter Zeit bedroht worden? Haben Sie irgendwelche Beobachtungen gemacht, die vielleicht darauf hindeuten könnten, dass Sie beobachtet worden sind?”, fragte Rudi.
Wildenbacher wirkte plötzlich nachdenklich. “Also die letzte Sache, an der Franz und ich zusammen gearbeitet haben, ist noch gar nicht lange her”, meinte er dann plötzlich. “Genau genommen ist der Fall auch noch gar nicht abgeschlossen…”
“Worum geht es?”, fragte ich.
Wildenbacher machte eine wegwerfende Handbewegung. “Aber da ging es nicht darum, dass jemand durch mein Gutachten verhaftet worden ist, sondern genau umgekehrt: Mein Gutachten hätte für die Freilassung einer Person sorgen können, vorausgesetzt, es wird irgendwann nochmal fertig…”
“Erzählen Sie es trotzdem, Gerold”, verlangte ich.
Wildenbacher hob die Augenbrauen. “Sie greifen im Moment nach jedem Strohhalm, was?”
“Wenn dieser Fall eine Verbindung zwischen Ihnen und Lutterbeck ist, dann ist es vielleicht doch mehr als ein Strohhalm”, gab ich zu bedenken.
Gerold Wildenbacher atmete tief durch. “Okay. Franz Lutterbeck war zuletzt wieder als Anwalt tätig. Er war zwar zeitlebens jemand, der für die unnachsichtige Verfolgung von Verbrechern eintrat und in seiner Zeit als Staatsanwalt als harter Hund galt. Aber er war auch durch und durch Jurist. Einer, der die Ansicht vertrat, dass auch unsympathische Personen Anspruch darauf haben, vor dem Gesetz fair behandelt zu werden.”
“Und wer ist die unsympathische Person in dieser Geschichte?”
“Jörn Savonian.”
“Den Namen habe ich schon gehört.”
“Ein Pate des organisierten Verbrechens. Man fand ihn mit einer toten Prostituierten im Bett. Er wurde wegen Mordes verurteilt und sitzt seitdem im Hochsicherheitstrakt. Vor kurzem bat mich Franz Lutterbeck um der alten Zeiten willen, ein paar alte Befunde zu überprüfen.”
“Warum?”
“Es bestand der Verdacht, dass der damalige gerichtsmedizinische Bericht falsch war. Franz hatte offenbar Indizien dafür gefunden, dass Jörn Savonian damals mit gefälschten Beweisen hereingelegt worden war.”
“Trifft das Ihrer Einschätzung nach zu?”
“Der Bericht war von vorne bis hinten falsch. Die Würgemale passten nicht zu den Händen des Verdächtigen. DNA-Proben waren falsch zugeordnet. Ich habe selten eine so schlechte Arbeit gesehen.”
“Nur Schlamperei oder bewusste Fälschung?”, fragte ich.
“Mein Freund Franz war der Überzeugung, dass der damalige Gerichtsmediziner gekauft wurde. Aber das ist alles nicht offiziell. Es gibt auch keinen offiziellen Bericht.”
“Wieso nicht?”
“Nochmal: Franz Lutterbeck hat bei mir informell nachgefragt, ob ich ein paar Dinge überprüfen würde. Er hat für Jörn Savonian das Mandat übernommen und vorher wollte er sicher sein, dass die Geschichte Hand und Fuß hat, bevor er damit vor Gericht geht. Natürlich hätte ich dann ein offizielles Gutachten zu der Sache abgegeben, aber so weit ist es ja auch gar nicht mehr gekommen. Schließlich…”
“...ist Franz Lutterbeck bekanntlicherweise vorher erschossen worden.”
“Wer wusste von den Plänen, den Fall Savonian nochmal aufzurollen?”, fragte ich.
“Soweit ich weiß, nur Savonian selbst, Lutterbeck und ich. Und vielleicht noch die eine oder andere Person in Lutterbecks Kanzlei.”
“Gab es nicht eine Morduntersuchung im Fall Lutterbeck?”, fragte ich.
“Ja, und die ist noch nichtmal abgeschlossen”, ergänzte Rudi.
“Wieso hat man da nicht gleich an diese Sache gedacht?”, fragte ich.
“Also man kann den Ermittlern da keinen Vorwurf machen”, meinte Wildenbacher. “Ich bin ja wegen Franz’ Tod auch kurz vernommen worden. “Es gab nun wirklich sehr viele Leute, die einen Grund hatten, auf Franz sauer zu sein, während von dieser Sache so gut wie niemand wusste und außerdem auch kein Grund ersichtlich gewesen wäre, ihn deshalb zu töten.”
“Vielleicht gibt es jemanden, der nicht will, dass man Jörn Savonian wieder freilässt”, meinte Rudi.
Rudis Handy klingelte. Mein Kollege ging dran. Er sagte ein paarmal etwas angestrengt “Ja!” und schloss schließlich mit einem: “Danke, dass Sie sofort angerufen haben.”
Dann beendete er das Gespräch.
“Was Wichtiges?”, fragte ich.
“Kann man wohl sagen. Das war Gregor Nöllemeyer, der Sprengstoffexperte.”
“Der Kerl, der da so nervös am Tatort herumgelaufen ist und versucht hat, herauszufinden, was das für eine Bombe war, die mich fast zerrissen hätte?”, fragte Wildenbacher.
“Nein”, sagte Rudi. “Das war ein Spurensicherer. Kommissar Nöllemeyer ist selbst nicht am Tatort gewesen, aber er hat die Daten ausgewertet. Vor allem hat er nach Fällen gesucht, in denen ebenfalls ein Zünder verwendet wurde, der mit Zeitverzögerung auf den Signalgeber des Autoschlüssels reagiert.”
“Ich nehme an, er ist fündig geworden”, meinte Wildenbacher.
“Vor zwei Jahren explodierte hier in Berlin der Wagen eines Clubbesitzers namens Tarik Özdiler auf dieselbe Weise. Kurz danach gab es weiterer Fälle in Börneburg und Frankfurt. Die Opfer waren auch Clubbesitzer. Und nun wird es interessant. Alle drei Clubs standen höchstwahrscheinlich unter der Kontrolle der Organisation, in der früher Jörn Savonian den Ton angegeben hat, bevor man ihn verhaftete.”
“Das sieht nach einem Volltreffer aus, Rudi”, meine ich. “Hat Kommissar Nöllemeyer zufällig auch erwähnt, wer diese Organisation übernommen hat und jetzt die Geschäfte leitet?”
“Man hat immer gedacht, dass Jörn Savonian aus dem Knast heraus im Wesentlichen die Fäden zieht”, meinte Rudi. “Genau weiß das niemand.”
“Aber Jörn Savonian wird kaum die beiden Leute ermorden lassen, die ihm als einzige aus dem Knast helfen können”, meinte ich.
29
Am nächsten Morgen fuhren Rudi und ich nach Börneburg, um uns mit Jörn Savonian zu treffen.
Der ehemalige Boss eines kriminellen Clans (deutsche Mutter, libanesischer Vater), war ein hochgewachsener, breitschultriger Mann in den Fünfzigern. Das Haar war grau, aber voll. Der Blick seiner graublauen Augen hatte etwas Falkenhaftes.
“Wenn das BKA sich für mich interessiert, kann das in der Regel nichts Gutes bedeuten”, meinte Jörn Savonian, nachdem er sich gesetzt hatte. “Keine Ahnung, was Sie mir noch anhängen wollen, damit ich noch weitere zweihundert Jahre im Knast sitze, selbst wenn sich irgendwann herausstellen sollte, dass ich diese Nutte im Paradise Club in Börneburg nicht umgebracht habe!”
“Sie können ganz beruhigt sein”, meinte ich. “Ich bin Kriminalinspektor Harry Kubinke, dies ist mein Kollege Kriminalinspektor Rudi Meier. Wir ermitteln in einem ganz anderen Fall und sind sicher nicht daran interessiert, Ihnen etwas anzuhängen.”
“Freut mich zu hören. Da mein Anwalt vor kurzem eine Ladung Blei abbekommen hat, stehe ich Ihnen leider ohne rechtlichen Beistand gegenüber.”
“Haben Sie keinen neuen Anwalt?”, fragte Rudi.
“Wir hätten nichts dagegen, wenn er anwesend wäre”, ergänzte ich. “Ganz im Gegenteil sogar.
“Sie werden es kaum für möglich halten, es ist nicht so einfach für mich, einen Anwalt zu bekommen, der bereit ist, meinen Fall nochmal in die Hand zu nehmen.”
“Kann ich mir kaum vorstellen. Das ist doch eine einmalige Gelegenheit, Justizgeschichte zu schreiben”, meinte ich.
“Was soll ich sagen? Die ganze Geschichte hat dafür gesorgt, dass mein Image irgendwie nicht das Beste ist. Die meisten denken, dass ich es irgendwie verdient habe, hier zu sitzen. Ganz egal, ob ich diese Frau getötet habe oder nicht.”
“Ich denke, abgesehen von diesem Mord bliebe immer noch genug auf Ihrem Kerbholz übrig, um Sie hier drin zu lassen”, meinte ich.
“Nur, dass mich dafür niemand verurteilt hat und mir nichts gerichtsfest bewiesen werden konnte! Ich habe nur Geschäfte gemacht und nie gegen Gesetze verstoßen.”
“Natürlich.”
“Wenn Sie der Meinung sind, dass ich hier in diesem Loch bleiben sollte, dann habe ich eine gute Nachricht für Sie, Kriminalinspektor. Genau das wird nämlich vermutlich passieren! Und davon abgesehen scheint es auch niemanden wirklich zu interessieren, wer Herr Lutterbeck umgebracht hat.”
“Genau deswegen sind wir hier”, sagte ich. “Kurz nacheinander werden der Anwalt und der Gerichtsmediziner, die sich mit Ihrem Fall beschäftigt haben, um ihn nochmal aufzurollen, Ziele von Attentaten. Wir nehmen an, dass das kein Zufall ist.”
Jörn Savonian runzelte die Stirn. “Worauf wollen Sie hinaus?”
“Überlegen Sie mal, ob es nicht sein könnte, dass jemand unter allen Umständen verhindern will, dass Sie aus dem Knast herauskommen”, gab ich ihm zu bedenken. “Fällt Ihnen da jemand ein?”
Die Frage schien ihn zumindest nachdenklich werden zu lassen. Er lehnte sich zurück. Eine Antwort blieb er uns allerdings zunächst schuldig. Ich verstand das auch. Wenn er uns auf diese Frage antwortete, gab er dabei möglicherweise Informationen darüber Preis, wie die Befehlsstränge innerhalb seiner Organisation zurzeit verliefen.
Einer Organisation, deren Existenz er ja immer abgestritten hatte und deren Führung man ihm nicht hatte beweisen können.
“Ist das jetzt eine Falle?”, fragte er. “Wollt ihr mich am Ende doch noch hereinlegen?”
“Herr Savonian, daran denkt niemand”, versicherte ich.
“Ich verstehe langsam. Jetzt sind vielleicht doch neue Beweise aufgetaucht oder Sie haben endlich eingesehen, dass Ihre Beweise falsch waren und jetzt fürchten Sie, dass Sie mich auf freien Fuß setzen müssen. Da versuchen Sie mich doch vorher lieber zu irgendwelchen unbedachten Aussagen zu verleiten, damit Sie mir vorher noch genug anhängen können, um mich trotz allem noch länger im Bau zu lassen, als ich vermutlich noch leben werde!”
“Herr Savonian, das ist Unsinn”, stellte ich klar. “Uns geht es um die Wahrheit - und darum, einen gefährlichen Killer und seinen Auftraggeber zu fassen.”
“Ach, wirklich?”
“Mag ja sein, dass Sie und das BKA normalerweise auf verschiedenen Seiten gestanden haben, aber in diesem Fall sollten wir eigentlich beide dasselbe Ziel haben, finde ich. Und wenn Sie es schaffen, einen Moment ruhig darüber nachzudenken, dann werden Sie erkennen, dass ich richtig liege.”
Einige Augenblicke herrschte jetzt ein angespanntes Schweigen. Ich wechselte einen kurzen Blick mit Rudi. Mein Kollege nickte mir zu. Offenbar war er ebenfalls der Ansicht, dass Jörn Savonian diesen Moment zum Nachdenken vielleicht einfach brauchte.
Savonian atmete tief durch. “Okay, dann stellen Sie am Besten einfach Ihre Fragen.”
“Falls Sie Sorge haben, dass irgendetwas von dem, was Sie uns sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden könnte, dann irren Sie sich”, stellte ich klar. “Im Moment interessiert uns nur dieser Killer. Aber möglicherweise hat das etwas mit Ihrem Fall zu tun und so könnte Ihnen das am Ende ebenfalls nutzen.”
Jörn Savonian beugte sich jetzt vor und sprach mit etwas gedämpftem Tonfall. “Wie ich schon wiederholt gesagt habe, bin ich für den Tod dieser jungen Frau nicht verantwortlich. Ich kannte sie nicht einmal.”
“Vielleicht erzählen Sie uns einfach mal, wie Sie das Geschehen von damals erlebt haben”, meinte ich.
“Das habe ich schon so oft getan, dass ich es kaum noch zählen kann. Nur hat mir bisher niemand glauben wollen. Bis auf Franz Lutterbeck, der schließlich sich dahintergeklemmt hat, dass das alles nochmal aufgerollt wird. Das ganze läuft auf Folgendes hinaus: Ich war in einem Club, um mich zu amüsieren, habe was getrunken, mir wurde schlecht und als ich erwachte lag neben mir eine tote Frau, von der sich später herausstellte, dass sie als Call-Girl tätig war. Und wie der Zufall es so wollte, fand ausgerechnet an diesem Tag auch eine Razzia in dem Club statt.”
“Haben Sie mal darüber nachgedacht, wer Sie aus dem Weg räumen wollte?”, fragte ich.
“Ich habe zuerst gedacht, dass es einfach ein übler Trick der Polizei war. Ich meine Ihresgleichen hat doch schon seit Jahren versucht, mir was am Zeug zu flicken. Man hat mir alles Mögliche versucht anzuhängen. Steuerhinterziehung, Geldwäsche, betrügerischer Bankrott und so weiter. Aber das ist alles gescheitert. Da ist es natürlich viel leichter, einem ein totes Call-Girl ins Bett zu legen, nachdem man einen mit k.o.-Tropfen flachgelegt hat.”
“Man hat die Substanz, die man Ihnen damals angeblich gab, nie nachweisen können…”, gab ich zu bedenken.
“So wie man wahrscheinlich auch nie herausfinden wird, wer das Call-Girl, wirklich umgebracht hat! Ich persönlich nehme an, dass es einer der Bullen war, die sich an meinen Fersen damals festgebissen hatten.”
“Herr Savonian, im Moment scheint mir die entscheidende Frage zu sein, wer ein Interesse daran haben könnte, dass es nicht zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens und möglicherweise zu Ihrer Freilassung kommt.”
“Ich sagte doch…”
“Ich meinte jetzt nicht Ihre Theorie, dass korrupte Ermittler sich Ihren Skalp an die Wand heften wollten. Ich dachte jetzt eher an Leute, aus Ihrem geschäftlichen Umfeld, wie Sie das vielleicht nennen würden. Leute, die einen Vorteil davon haben, wenn Sie für immer hinter diesen Mauern bleiben.”
“Das halte ich für ausgeschlossen.”
“Fällt Ihnen jemand ein, der Autobomben verwendet, die auf den Signalgeber des Zündschlüssels reagieren?”
Savonian verzog das Gesicht. “Wie kommen Sie darauf, dass ich solche Bekannte habe?”
“Es ist noch nicht so lange her, da starben mehrere Personen, die zumindest von uns Ihrer Organisation zugerechnet werden, auf genau diese Weise.”
“Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Und wie mir scheint, ist es jetzt doch wohl besser, wenn ich nun erstmal einen neuen Anwalt hinzuziehe, bevor ich das Gespräch mit Ihnen fortsetze, Kriminalinspektor Kubinke.”
30
“Willst du wirklich, dass dieser Kerl wieder in Freiheit kommt?”, fragte Rudi, nachdem bereits wieder im Dienst-Porsche saßen.
“Wenn er wegen einer Tat im Gefängnis sitzt, die er nicht begangen hat, führt kein Weg daran vorbei”, meinte ich.
Rudi seufzte. “Ich weiß. Aber ich kann nicht sagen, dass ich besonders glücklich darüber bin.”
“Hast du es bemerkt? Der wollte nicht darüber reden, wer aus seinem Umfeld vielleicht damit zu tun haben könnte, Rudi.”
“Dann werden wir uns selbst darum kümmern müssen.”
“Die Theorie, dass er durch unsere Leute hereingelegt wurde, ist leider auch nicht ganz von der Hand zu weisen.”
“Aber das würde doch kaum mit dem Rest der Geschichte zusammenpassen”, meinte ich. “Das Sprengstoff-Attentat auf Gerold zeigt doch eine sehr eindeutige Handschrift.”
“Du spielst auf die Beziehung an, die es möglicherweise zwischen der Tat und dem Tod von ein paar Clubbesitzern gibt, die in irgendeiner Weise mit der Savonian-Organisation verbunden waren und vielleicht aus einem uns nicht bekannten Grund seinerzeit in Ungnade gefallen sind.”
“Richtig. Das muss ein Täter aus dem Umfeld dieser Organisation sein. Kein Cop.”
“Zwingend ist das nicht, Harry. Und davon abgesehen wissen wir noch nichtmal sicher, ob der Sprengstoff-Attentäter mit dem Killer identisch ist, der den MdB und Franz Lutterbeck auf dem Gewissen hat.”
“Ob es ein und derselbe Täter war, können wir nicht mit Sicherheit sagen”, gab ich zu. “Aber ich wette, der Auftraggeber war derselbe.”
Während wir bereits wieder unterwegs waren, hatte Rudi das Laptop auf den Knien aufgeklappt.
Wir telefonierten mit Lin-Tai Gansenbrink. “Sie suchen einen Mann mit verkürztem kleinen Finger und mit einer genau definierten Körpergröße, der im Umfeld des Savonian-Clans und der von Jörn Savonian mutmaßlich geleiteten Organisation aktiv ist”, fasste Lin-Tai die Angelegenheit zusammen. “Immerhin werden die Anforderungen an meine Suchfilter immer konkreter. Das ist schonmal ein Fortschritt, wenngleich ich bisher leider sagen muss, dass es nach wie vor keinen Treffer gibt.”
“Es könnte sein, dass er sich mit Sprengstoff auskennt”, sagte ich.
“Tun Sie mir einen Gefallen, Harry.”
“Jeden, wenn Sie ein Ergebnis liefern, mit dem wir was anfangen können.”
“Reden Sie mit Gerold.”
“Wieso?”
“Er hat mich schon zweimal angerufen, ob es etwas Neues gibt. Er hält mich damit von der Arbeit ab. Vielleicht ist es ja trotz der prekären Sicherheitslage möglich, ihn irgendwie in die Arbeit an dem Fall zu integrieren.”
“Wir werden mit ihm sprechen”, sagte ich.
“Richten Sie ihm von mir die besten Grüße aus und sagen Sie ihm, dass man Handys orten kann. Er sollte seines besser so wenig wie möglich benutzen.”
“Aus Ihrem Mund würde so eine Warnung auf jeden Fall noch etwas überzeugender klingen”, meinte ich.
Wir beendeten das Gespräch.
Rudi, hatte inzwischen auf seiner Laptoptastatur herumgehackt. “Ich habe mich mal etwas näher die bisherigen Ermittlungen gegen Savonians Organisation informiert.”
“Und?”
“Dafür waren Abteilungen in mehreren Polizeibehörden zuständig. Die Organisation hat schließlich in ganz Deutschland ihre Aktivitäten entfaltet. Aber die Dossiers, die seit der Verhaftung von Jörn Savonian angefertigt wurden und die neueren Aktivitäten dieser Organisation beschreiben, wurden überwiegend von den Kollegen hier aus Börneburg verfasst.”
“Da wir schonmal hier sind, könnten wie Dienststellenleiter Melnik einen kurzen Besuch abstatten und vielleicht sogar mit jemandem sprechen, der sich mit diesem Ermittlungskomplex zurzeit beschäftigt.”
“Gut, das kann ja nicht schaden”, meinte ich.
31
Wir fuhren zur Dienstelle in Börneburg, die von Dienststellenleiter Gunnar Melnik geleitet wurde. Wir kannten ihn gut durch die Zusammenarbeit in anderen Fällen. Melnik empfing uns in seinem Büro. Außerdem war noch Kriminalhauptkommissar Klaus-Reiner Dennerlein anwesend, der zurzeit für die Beobachtung der Savonian-Organisation zuständig war, wie Dienststellenleiter Melnik uns erklärte.
“Wenn irgend jemand angenommen hat, dass durch die Verhaftung von Jörn Savonian die Aktivitäten der Organisation zurückgegangen wären, dann ist das ein Trugschluss”, meinte Dienststellenleiter Melnik. “Aber dazu kann Ihnen Kriminalhauptkommissar Dennerlein mehr sagen.”
“Wir hören Ihnen gespannt zu”, sagte ich und wandte mich an Dennerlein.
“Es scheint so zu sein, dass sich nach Savonians Verhaftung die Organisation sogar noch weiter ausgebreitet und neue Geschäftsfelder erschlossen hat”, sagte Dennerlein. “Insbesondere gilt das für Teile des Heroinhandels. Bisher war Savonians Organisation eher im Kokainhandel und bei Designerdrogen stark engagiert.”
“Worauf sind diese Verschiebungen mutmaßlich zurückzuführen?”, fragte ich. “Wenn es starke Konkurrenzkämpfe gegeben hätte, dann…”
“Hätten auch Sie davon gehört, meinen Sie”, sagte Dennerlein.
“So könnte man es sagen.”
“Es geht wohl eher um Vorgänge, die man in der legalen Wirtschaft eine freundliche Übernahme nennen würde”, sagte Dennerlein. Die Savonian-Organisation hat sich mit kleineren Playern in diesem Geschäft offenbar zusammengeschlossen oder man ist zu irgendeiner Form der Kooperation übergegangen.”
“Sieht fast wie ein Strategiewechsel aus”, mischte sich Rudi ein.
“Das ist ein Strategiewechsel gewesen”, stellte Dennerlein fest. “Jörn Savonian neigte eher dazu, Konkurrenten durch ihm ergebene Gangs in die Schranken zu weisen oder zu vertreiben. Seine Nachfolger gehen da anders vor. Und zwar so lautlos, dass man für eine Weile schon auf den Gedanken kommen konnte, dass die Organisation gar nicht mehr aktiv ist.”
“Wer hat dort nach Jörn Savonians zwangsweisem Rückzug denn die Fäden in der Hand?”, fragte ich.
“Wir gehen davon aus, dass sein Neffe Selim Savonian die Geschäfte übernommen hat”, sagte Dennerlein.
“Das war im übrigen auch der Grund dafür, warum die Zuständigkeit für die weiteren Ermittlungen gegen die Organisation hier nach Börneburg gekommen sind”, ergänzte Melnik. “Dieses Syndikat hat den Schwerpunkt seiner sogenannten unternehmerischen Tätigkeiten zwar eher in Berlin oder Frankfurt, aber alle wichtigen Personen, die mutmaßlich an der Spitze stehen, befinden sich hier in Börneburg.”
“Jörn Savonian allerdings nicht freiwillig”, warf Rudi ein.
“Seine Frau ist hier hin gezogen, hat hat eine große Villa am Stadtrand bezogen. Eigene Kinder hat er keine. Aber sein Neffe Selim war immer so etwas wie ein Ersatz-Sohn.”
“Halten Sie es für möglich, dass Selim Savonian verhindern will, dass der große Boss nochmal aus dem Knast kommt?”, fragte ich. “Ich meine, es dürfte ihm kaum gefallen, die Kontrolle über die Geschäfte wieder abzugeben!”
“Ich kann nicht beurteilen, wie groß die Chance wirklich ist, dass Jörn Savonian wieder freikommt…”
“Franz Lutterbeck glaubte glasklare Beweise zu haben”, sagte ich. “Und unser Gerichtsmediziner Gerold Wildenbacher, der die Berichte der ersten Untersuchung prüfen sollte, bestätigt das.”
“In diesem Fall hätte Selim Savonian sogar seinerzeit ein Motiv dafür gehabt, seinen Onkel hereinzulegen und dafür zu sorgen, dass er für einen Mord verurteilt wurde, den er vermutlich nicht begangen hat”, ergänzte Rudi.
“Das widerspräche allerdings dem sehr engen Verhältnis, das Jörn Savonian zu Selim immer hatte”, sagte Kommissar Dennerlein. “Wir wissen, dass Frau Savonian sich diversen Behandlungen unterzogen hat, um doch noch schwanger zu werden. Vergeblich. Jörn hat in Selim den Sohn gesehen, den er selbst nicht hatte. Selim dürfte einer der wenigen Personen sein, denen Jörn absolut vertraut hat. Übrigens sorgt Selim auch für den Unterhalt der Villa, in der Frau Savonian jetzt wohnt, was ebenfalls dafür spricht, dass das Verhältnis nach wie vor eng ist. Außerdem wird das durch die Aufzeichnungen über die Besuche in der Haftanstalt belegt.”
“Selim besucht seinen Onkel regelmäßig?”
“Natürlich. Und seine Frau ebenfalls”, erklärte Dennerlein.
“Langsam wird mir klar, weshalb Jörn Savonian mit uns nicht über sein persönliches und geschäftliches Umfeld reden wollte”, meinte ich.
“Glaubst du, er ist so naiv, dass er nicht ahnt, dass da irgendetwas faul ist und gegen ihn gelaufen ist?”, fragte Rudi.
Ich zuckte mit den Schultern. “Vielleicht will er das einfach noch nicht wahrhaben.” Ich wandte mich an Kommissar Dennerlein und Dienststellenleiter Melnik. “Welche Rolle spielt Frau Savonian in der ganzen Angelegenheit?”
“Unseren Erkenntnissen nach hat sie immer loyal auf der Seite ihres Mannes gestanden, aber sich nie in Geschäfte eingemischt.”
“Ich finde, wir sollten dringend mit ihr sprechen, Harry”, fand Rudi. “Zum Beispiel würde mich brennend interessieren, wie weit sie in die Pläne von Franz Lutterbeck eingeweiht war, den Fall ihres Mannes nochmal aufzurollen.”
32
Die herrschaftliche Sandsteinvilla lag am Rand von Börneburg auf einem weitläufigen, hügeligen Grundstück. Frau Elizabeth Savonian residierte inmitten eines Anwesens, das anderen Leuten als Golfplatz genügt hätte. Es gab ein Haupttor, durch das wir eingelassen wurden, nachdem wir über eine Sprechanlage mit einem Bediensteten geredet und unsere Ausweise in die Überwachungskamera gehalten hatten. Wir fuhren bis zum Haupthaus. Daneben gab es noch eine sehr großzügig angelegte Garage und ein weiteres Nebengebäude, das vermutlich der Unterbringung von Personal diente.
“Die Geschäfte der Organisation scheinen nicht schlecht zu laufen, wenn Selim in der Lage ist, Frau Savonian den Unterhalt dieses Anwesens zu bezahlen”, meinte ich, während ich den Dienst-Porsche in einer der durch Blumenkübel voneinander abgegrenzten Besucher-Parkbuchten abstellte.
“Du vergisst, das Frau Savonian durch die Verhaftung ihres Mannes kaum finanzielle Verluste hat hinnehmen müssen”, gab Rudi zu bedenken.
Rudi hatte Recht.
Jörn Savonian war schließlich wegen Mordes verurteilt worden. Einem Mord, der in keinem nachweisbaren Zusammenhang zu seinen geschäftlichen Aktivitäten gestanden hatte. Ganz anders hätte der Fall gelegen, hätte er wegen Geldwäsche oder organisierter Kriminalität vor Gericht gestanden. Dann wäre es möglich gewesen, sein Vermögen oder zumindest große Teile davon einzuziehen.
Aber das blieb wohl einstweilen der Traum eines nach Gerechtigkeit suchenden Ermittlers.
Wir stiegen aus.
Eine riesige Dogge tauchte plötzlich aus dem Schatten auf und stand nun auf der obersten Stufe des Eingangsportals. Der Hund hatte dort offenbar irgendwo in einer Nische gelegen, denn wenn er auf seinen Beinen gestanden hätte, wäre es unmöglich gewesen, ihn übersehen. Das Tier knurrte.
“Scheint, als wären wir nicht so richtig willkommen, Harry”, murmelte Rudi. Wir hatten natürlich unserer Dienstwaffen dabei, aber ein Tier von dieser Größe konnte einem trotzdem gefährlich werden und war selbst durch mehrere Pistolenkugeln schwer zu stoppen.
Eine schlanke Frau mit dunklem, leicht silbern durchwirktem Haar trat durch die Eingangstür hinaus. “Sei ruhig, Satan.”
“Einen interessanten Namen haben Sie Ihrem Hund gegeben”, meinte ich laut genug, dass unsere Gastgeberin uns hören konnte. “Ich nehme an, Sie sind Frau Savonian!”
“Mein Leibwächter hat gesagt, dass Ihre Ausweise in Ordnung sind”, erklärte sie, ohne auf meine Frage direkt zu antworten. “Wenn Sie wollen, können Sie mir folgen. Ich habe allerdings nicht viel Zeit für Sie.”
“Die sollten Sie sich aber nehmen.”
“Meinen Sie?”
“Und der Hund…”
“Satan wird Ihnen nichts tun”, sagte Frau Savonian. “Vorausgesetzt, Sie ärgern ihn nicht. Dann kann er seinem Namen schonmal alle Ehre machen und etwas bissig reagieren.”
Wir gingen die Stufen des Portals hinauf und folgten ihr ins Innere des Hauses. Die riesige Dogge mit dem bösartigen Namen reichte der zierlich gewachsenen Frau Savonian beinahe bis zur Bauchnabelhöhe. Aber der Hund schien hervorragend erzogen zu sein. Jedenfalls folgte Satan ihr auf den Fuß und hielt sich immer dicht neben ihr.
In der Eingangshalle wartete ein Mann im dunklen Anzug. Er trug ein Funkgerät in der Hand. Ich nahm an, dass es sich um den Leibwächter handelte, zumal sich unter seinem Jackett etwas abzeichnete, was verdächtig nach einer Schusswaffe aussah.
Ich achtete unwillkürlich darauf, ob der Kerl vielleicht einen verkürzten kleinen Finger hatte. Aber das war nicht der Fall. Rudi schien denselben Gedanken gehabt zu haben. das konnte ich ihm ansehen. Er grinste verhalten.
Es wäre auch zu schön gewesen, hier und jetzt zufällig auf den Killer zu stoßen, hinter dem wir her waren.
Frau Savonian führte uns in ein weiträumiges Wohnzimmer. Durch die großzügig bemessenen Fensterflächen schien die Sonne herein.
“Ich denke, es ist unnötig. Ihnen etwas anzubieten, denn ich nehme an, dass Sie in Kürze wieder gehen werden”, sagte Frau Savonian. Dann deutete sie auf eine Sitzecke. “Nehmen Sie Platz und dann hoffe ich, bringen wir die Angelegenheit schnell hinter uns.”
Rudi setzte sich. Frau Savonian ebenfalls. Ich hingegen verzichtete darauf, was auch damit zu tun hatte, dass mich die Fotos in den Bann schlugen, die überall an den Wänden schön gerahmt zu sehen waren. Viele davon zeigten Selim Savonian. Ich hatte inzwischen ein Foto gesehen, das man von ihm in unserer Datendossiers finden konnte. Dadurch erkannte ich ihn wieder. Bei dem flüchtigen Rundumblick sah ich Selim als Festredner auf der Abschlussfeier seiner Gesamtschule, Selim mit ein paar Freunden Grimassen schneidend an irgendeinem sonnigen Strand, Selim auf einem großformatigen Portraitbild, das ihn offenbar ein paar Jahre später und ein paar Kilo schwerer zeigte.
“Ihr Neffe Selim scheint Ihnen sehr nahe zu stehen”, stellte ich fest, bevor ich mich dann schließlich doch noch setzte.
“Ich wäre Ihnen durchaus dankbar, wenn Sie zur Sache kommen würden”, sagte Frau Savonian, zu deren Füßen sich die riesige Dogge hingelegt hatte.
“Wo finden wir Ihren Neffen?”, fragte ich.
“Ich nehme an, dass Sie wissen, dass er eine Wohnung in der Stadt hat. Und wenn Sie mit ihm sprechen wollen, dann sollten Sie mit seinem Büro einen Termin ausmachen, wie sich das gehört.” Frau Savonians Tonfall erinnerte an den Klang von klirrendem Eis.
“Frau Savonian, ich nehme an, Ihr Mann hat mit Ihnen darüber gesprochen, dass er gute Chancen hat, aus dem Gefängnis entlassen zu werden”, sagte ich.
Ich beobachtete ihr Gesicht. Es blieb fast völlig unbewegt. Aber sie wich meinem Blick aus. “Jörn hatte einen Anwalt engagiert, der eine Wiederaufnahme des Verfahrens betreiben sollte”, gab sie dann ausweichend zurück. “Sind Sie deswegen hier?”
“Dann ist Ihnen sicher auch bekannt, dass dieser Anwalt inzwischen erschossen wurde.”
“Ja, das ist mir bekannt”, antwortete sie etwas gereizt.
“Auf den Gerichtsmediziner, den dieser Anwalt bat, die Originalbefunde zu überprüfen, ist ein Sprengstoffattentat verübt worden. Haben Sie davon auch gehört?”
“Worauf wollen Sie hinaus?”, fragte sie.
“Wir sind der Ansicht, dass jemand mit allen Mitteln verhindern will, dass der Fall Ihres Mannes nochmal aufgerollt wird. Haben Sie eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?”
Frau Savonian rieb ihre Handflächen gegeneinander und wirkte etwas nervös. “Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn Sie die Nachricht bekommen, dass Ihr Mann im Bett mit einem toten Call-Girl aufgegriffen wurde?”
“Nun, ich…”
“Ich will ganz offen sein. In der ersten Zeit hatte ich nicht das Gefühl, dass mein Mann zu Unrecht im Gefängnis sitzt.”
“Sie haben ihn aber trotzdem die ganze Zeit über regelmäßig besucht.”
“Es gab eine Menge zu besprechen. Vor allem Geschäftliches.”
“Hat Franz Lutterbeck mit Ihnen gesprochen?”
“Ja, sehr ausführlich. Er hat versucht, mich davon zu überzeugen, dass Jörn die tote Frau, die man bei ihm gefunden hat, nicht umbrachte.” Sie schluckte. “Er wollte mich sogar davon überzeugen, dass er nichtmal Sex mit ihr hatte, sondern ihm ein jemand eine Leiche ins Bett legte, nachdem man ihn mit k.o.-Tropfen außer Gefecht setzte.”
“Haben Sie Herrn Lutterbeck geglaubt?”
“Anfangs nicht. Er sprach dauernd davon, dass es bei einem Wiederaufnahmeverfahren wichtig sei, dass ich hinter der Sache stehen würde und genauso von Jörns Unschuld überzeugt sei wie er.” Sie zuckte mit den Schultern. “Ein typischer Anwalt eben, so habe ich gedacht. Einer, bei dem es nur darum geht, den Prozess zu gewinnen und dem es im Grunde egal ist, was wirklich geschah.”
“Aber Ihre Ansicht hat sich geändert?”, hakte ich nach.
“Das wäre vielleicht zuviel gesagt. Ich würde es lieber so formulieren: Ich halte es nicht mehr für ausgeschlossen, dass es tatsächlich so war, wie Jörn immer behauptet hat. Warum er allerdings überhaupt in diesem Club war und ob er etwas mit dieser Frau hatte, steht auf einem anderen Blatt.”
“Diese Frau war ein Call-Girl”, stellte ich fest. “Und wir wissen, dass die Würgemale der Toten nicht zu den Händen Ihres Mannes passen. Die Sache hätte gute Aussichten gehabt, vor Gericht erfolgreich zu sein. Aber jemand wollte das um jeden Preis verhindern. Wir gehen davon aus, dass ein Killer beauftragt wurde, um das Problem zu lösen. Und unsere Theorie ist, dass der von jemandem beauftragt wurde, der einen Vorteil davon hat, wenn Ihr Mann weiter im Knast sitzt.”
“Wenn Sie mich verdächtigen sollten, dann irren Sie sich gewaltig. Sie können das nicht wissen, aber Jörn und ich haben bei der Hochzeit einen Ehevertrag unterschrieben. Er könnte sich jederzeit von mir scheiden lassen können, ohne dabei ein besonders hohes finanzielles Risiko befürchten zu müssen.”
“Diesen Vertrag würden wir gerne sehen”, verlangte ich. “Und davon abgesehen: Vielleicht würde Ihr Mann ja genau das tun, sobald er draußen ist und und er sieht, wie die Dinge während seiner Abwesenheit gelaufen sind.”
“Dazu hätte er keinen Grund”, behauptete sie.
“Wenn das tatsächlich so sein sollte, dann spricht doch nichts dagegen, dass Sie uns helfen, den Fall aufzuklären.”
“Natürlich nicht. Und ich habe auch nie gesagt, dass ich nicht kooperieren würde.”
“Wenn Sie kein Interesse daran haben, dass Ihr Mann länger als nötig im Gefängnis schmort, dann bleibt unseren bisherigen Erkenntnissen nach eigentlich nur eine andere Person übrig, die dafür in Frage käme.”
“Ich habe keine Ahnung von wem Sie sprechen.”
Ich stand auf, und deutete auf eines der Fotos von Selim Savonian. “Ich glaube, Sie wissen ganz genau, wen ich meine. Und Ihr Mann wusste das auch, als ich ihn danach fragte, wer denn möglicherweise ein Interesse daran haben könnte, dass er im Knast bleibt. Ihr Neffe Selim, der jetzt die Geschäfte kontrolliert, die er sich dadurch unter den Nagel gerissen hat, dass er Ihren Mann in eine Falle lockte.”
“Hören Sie, wenn mein Mann unschuldig ist, wieso sorgen Sie nicht einfach dafür, dass er aus dem Gefängnis entlassen wird?”
“Und wieso schützen Sie und Ihr Mann Ihren Neffen?”
“Sie wissen nicht, was Selim für uns bedeutet.”
“Sie haben in ihm ihren Ersatz-Sohn gesehen, das habe ich inzwischen begriffen.” Ich deutete zu den Fotos. “Und dieser Schrein hier spricht Bände darüber. Aber es geht noch um etwas anderes. Und so ahnungslos können Sie gar nicht sein, dass Sie das nicht wenigstens ahnen!”
“Ich denke, es ist jetzt das Beste, wenn Sie gehen. Kommen Sie wieder, wenn ein Anwalt der Familie anwesend ist. Ich habe keine Lust, mich oder die geschäftlichen Aktivitäten unserer Familie in irgendwelche Schwierigkeiten zu bringen.”
“Womit wir beim Kern der Sache wären! Die Geschäfte, die Ihr Ersatz-Sohn übernommen hat, arbeiten mit Geld aus illegalen Quellen. Und natürlich wollen weder Ihr Mann noch Sie, dass man diese Geschäfte genauer unter die Lupe nimmt, denn dann wäre Jörn Savonian vielleicht am Ende wieder im Knast - allerdings wegen Geldwäsche und den Verbrechen, die er in seiner Eigenschaft als Anführer einer kriminellen Organisation beging.”
Frau Savonian sah mich an. Aus ihren Augen blitzte so viel Wut, dass ich mit meinen Mutmaßungen eigentlich nur richtig liegen konnte. “Wenn Sie Beweise für all diese Dinge hätten, dann wäre mein Mann schon viel, viel früher verhaftet worden! Und Selim ebenso! Aber Sie haben diese dunklen Geschäfte, von denen Sie da faseln, nie nachweisen können! Es gab nicht einmal eine Anklage.”
Ich war in diesem Moment etwas abgelenkt. Eines der Fotos fiel mir auf. Ich nahm es von der Wand. Es zeigte Selim Savonian mit ein paar Freunden auf einer Segelyacht. Selim alberte offenbar mit zwei jungen Frauen herum. Die Stimmung schien sehr ausgelassen. Ein anderer Mann hatte eine Flasche Champagner in der Hand. Mir fiel die Hand auf, deren Finger um den Flaschenhals griffen.
Der kleine Finger war deutlich kürzer und wirkte verkrüppelt.
“Wann und wo wurde dieses Bild aufgenommen?”, fragte ich Frau Savonian.
“Das ist schon etwas her. Das sind Selim und seine Freunde. Mein Mann hat ihnen jedes Jahr unsere Yacht geliehen. “
“Wer ist der Mann mit der Champagnerflasche?”
“Selim ist erwachsen. Denken Sie wirklich, dass ich ihm noch vorschreibe, mit wem er spielen darf?”, fragte sie ärgerlich. “Ich habe wirklich keine Ahnung. Er hat viele Freunde und Bekannte.”
“Sehen Sie den kleinen Finger? Der ist verkrüppelt und hat nicht die Länge, die er haben sollte. Vielleicht sehen Sie sich das Bild nochmal genauer an. Es könnte doch sein, dass dieser Mann Ihnen schonmal aufgefallen ist.”
Frau Savonian starrte nur kurz auf das Foto. “Möglich, dass das jemand ist, den er mal als Leibwächter engagiert hatte. Man ist in diesem Land ja nicht mehr sicher.”
Ich bemerkte, dass die Dogge, die zu Frau Savonians Füßen lag, den Kopf gehoben hatte. Offenbar war der Hund der Ansicht, dass ich seiner Besitzerin zu nahe gekommen war.
“Es wäre nett, wenn Sie das Foto wieder an die Wand hängen und dann so gütig wären, dieses Haus zu verlassen”, sagte Frau Savonian dann mit scharfem Unterton. Wie auf ein geheimes Zeichen hin erhob sich daraufhin die Dogge und spitzte die Ohren.
“Das Bild werde ich beschlagnahmen müssen”, sagte ich. “Aber den anderen Gefallen kann ich Ihnen gerne tun.”
Rudi erhob sich. “Sie hören von uns, Frau Savonian”, kündigte mein Kollege an. “Ganz bestimmt.”
33
Als wir wenig später wieder im Dienst-Porsche saßen und das Grundstück der Savonian-Villa verlassen hatten, scannte Rudi das Foto von der Yacht mit seinem Smartphone und schickte es an Lin-Tai.
Anschließend telefonierten wir mit ihr über die Freisprechanlage des Dienst-Porsche.
“Der Mann, der die Champagnerflasche hält, ist vermutlich der Killer, den wir suchen”, sagte ich. “Er könnte mal Leibwächter von Selim Savonian gewesen sein. Vermutlich ist er es immer noch. Dann würde alles zusammenpassen: Selim Savonian hatte ein gutes Motiv, um die Freilassung seines Onkels zu verhindern und so wieder die Kontrolle über dessen Geschäfte zu verlieren. Und dieser Champagnertrinker mit dem verkürzten kleinen Finger ist vermutlich das, was man so gemeinhin ein ausführendes Organ nennt.”
“Das Bild ist zumindest qualitativ so, dass ich damit schonmal was anfangen kann”, meinte Lin-Tai. “Auf jeden Fall lässt sich die Körpergröße exakt berechnen. Und wenn dann noch die Verkrüppelung des kleinen Fingers der entspricht, die bei dem falschen Elektriker auf dem Überwachungsvideo der Werner Bretzler Halle zu sehen war, haben wir es mit sehr großer Wahrscheinlichkeit mit demselben Mann zu tun.”
“Eine Adresse oder ein Aufenthaltsort wäre mir ehrlich gesagt etwas lieber”, bekannte ich.
“Vielleicht sind Sie ein bisschen anspruchsvoll, Harry!”
“Wollen Sie wirklich, dass Gerold weiterhin aus Sicherheitsgründen unter Bewachung stehen und in einer konspirativen Wohnung zum Nichtstun verurteilt ist, Lin-Tai? Das können wir ihm doch beide nicht antun.”
“Das kann ich vor allen Dingen mir nicht antun.”
“Hat er Sie wieder angerufen?”
“Und Sie haben nicht mit ihm gesprochen, wie Sie es angekündigt haben!”
“Trösten Sie sich. Sein Smartphone-Akku müsste irgendwann leer sein, wenn das so weitergeht.”
“Ich glaube, darauf werde ich lieber nicht warten.”
“Heißt das, es besteht Hoffnung, herauszubekommen, wer der Champagnertrinker ist?”
“Nichts ist unmöglich, Harry, und ich werde wie immer mein Bestes tun. Und bis jetzt war das noch immer gut genug.”
34
Wir fuhren zurück nach Berlin. Unterwegs aßen wir einen Hot Dog und telefonierten später von unterwegs mit Herrn Hoch, um ihn auf den Stand der Ermittlungen zu bringen.
“Selim Savonian wird von den Kollegen der Dienststelle Börneburg seit längerer Zeit beobachtet”, sagte ich. “Die warten eigentlich nur darauf, dass er etwas tut, woraus man ihm einen Strick drehen kann.”
“Nur, dass er Ihnen den Gefallen offenbar nicht tut”, meinte Kriminaldirektor Hoch.
“Er ist mindestens so gerissen wie sein Onkel Jörn”, sagte Rudi. “Der wird sich bei nichts erwischen lassen. Aber vielleicht wäre es gut, eine Genehmigung zur kompletten Überwachung seiner Telekommunikation zu bekommen.”
“Die liegt noch nicht vor?”
“Es gab keinen Verdacht, der konkret genug war. Und da bisher alle Ermittlungen gegen Savonian ins Leere gelaufen sind, haben die Kollegen aus Börneburg etwas mit dem Unwillen der Richter zu kämpfen.”
“Ich werde versuchen, mich da einzuschalten”, versprach Kriminaldirektor Hoch. “Vorausgesetzt Sie bekommen die Identität dieses Killers mit dem Finger heraus, wie aussichtsreich können Sie danach eine Verbindung zu Selim Savonian beweisen?”
“Das wird noch ein Problem”, gab ich zu. “Ein gemeinsames Foto auf einer Segelyacht wird dazu kaum ausreichen.”
35
Wir hatten die Außenbezirke von Berlin gerade erreicht, als Lin-Tai sich meldete. “Wir haben ihn”, verkündete sie. “Er heißt Sergej Hermlin und die Adresse habe ich Ihnen bereits gemailt.”
“Wie haben Sie das so schnell geschafft?”, fragte ich.
“Ich hätte es schon viel früher herausfinden können, wie ich zugeben muss. Aber ich war betriebsblind. Wie wir alle wahrscheinlich. Ich habe zunächstmal festgestellt, dass Körpergröße und die Art der Verstümmelung des kleinen Fingers offenbar mit der Person übereinstimmen, die wir als falschen Elektriker auf der Aufnahme der Überwachungskamera am Eingang der Werner Bretzler Halle von Wismar gesehen haben. Und dann habe ich diese Merkmale noch einmal in unsere Datenbanken eingegeben. Aber diesmal habe ich nicht bei den Straftätern gesucht, die erkennungsdienstlich behandelt wurden.”
“Sondern?”
“Bei den Opfern. Vor ein paar Jahren gab es einen Überfall. Das Ganze hat sich hier in Berlin vor einem Club abgespielt. Ein Betrunkener hat Selim Savonian mit einem Messer versucht anzugreifen. Sein Leibwächter ist dazwischen gegangen und hat sich dabei am kleinen Finger verletzt. Es gab eine bakterielle Infektion, die es nötig machte, einen Teil des Fingers zu entfernen.”
“Sie haben anscheinend nichtmal Respekt vor den Datenbanken von Krankenhäusern und Ärzten”, meinte Rudi.
“Das steht in dem veröffentlichten Urteil des Prozesses, den es anschließend gegen den Täter gab und der dann wohl auch noch Grundlage einer zivilrechtlichen Auseinandersetzung war. Die Adresse von damals war übrigens nicht mehr aktuell. Die aktuelle habe ich durch eine zugegebenermaßen etwas abgekürzte Anfrage bezüglich einer Fahrzeugzulassung. Er fährt einen BMW. Kennzeichen habe ich Ihnen auch zugeschickt.”
“Dann steuern wir jetzt am Besten seine Adresse in Berlin an und statten ihm einen ungebetenen Besuch ab”, meinte ich.
“Nein, das tun Sie besser nicht”, widersprach Lin-Tai.
“Aber…”
“Sie werden ihn dort nicht finden und es hat auch keinen Sinn, da auf ihn zu warten.”
“Und was schlagen Sie stattdessen vor, Lin-Tai?”
“Fahren Sie zu der konspirativen Wohnung, von der aus Gerold mich angerufen hat. Hermlin ist nämlich auch dort. Ich habe das GPS-Signal seines Wagens und außerdem langweilt er sich wohl ein bisschen und spielt gerade ein Online-Spiel mit seinem regulären Vertrags-Smartphone. Wenn Sie mich fragen, dann sitzt er zur Zeit einfach in seinem Wagen und wartet darauf, dass Wildenbacher irgendwann die Wohnung verlässt. Übrigens benutzt er anscheinend dasselbe Programm, um Handys zu tracken wie ich.”
“Wildenbacher hätte tatsächlich nicht so oft bei Ihnen anrufen sollen.”
36
Wir warnten als Erstes die beiden Kommissars vor, die zurzeit mit der Bewachung von Dr. Wildenbacher betraut waren. Wildenbacher selbst kontaktierten wir nicht. Schließlich wussten wir nicht, wie weit die Überwachung seines Smartphones tatsächlich ging.
“Ein BMW mit dem von Ihnen angegebenen Kennzeichen steht in einer Parklücke auf der anderen Straßenseite”, meldete uns Kommissar Rita Morgenstern, deren Schicht bei Wildenbacher gerade erst begonnen hatte.
“Unternehmen Sie nichts”, sagte ich. “Sorgen Sie nur dafür, dass Wildenbacher unter gar keinen Umständen die Wohnung verlässt und erklären Sie ihm die Situation. Wir sorgen dafür, dass Verstärkung kommt und das Gebiet weiträumig so gesichert wird, dass Hermlin uns nicht entkommen kann.”
“In Ordnung, Kriminalinspektor”, antwortete Kommissarin Rita Morgenstern.
Während ich das Gaspedal des Dienst-Porsche durchtrat, um möglichst schnell an unser nächstes Ziel zu kommen, begann Rudi bereits nacheinander mit den Kollegen des BKA-Büro Berlin und des Berlin Polizeipräsidium zu sprechen, um den bevorstehenden Einsatz einzuleiten.
37
Wir erreichten schließlich die Straße am Rande Berlins, in der sich die konspirative BKA-Wohnung befand. Den Dienst-Porsche stellte ich in einer Nebenstraße ab. Wir stiegen aus. Kommissarin Rita Morgenstern meldete sich nochmal bei uns.
“Die Lage ist unverändert”, erklärte sie. “Der Typ sitzt immer noch in seinem Wagen. Mein Kollege Kommissar Rachert ist nach unten gegangen und hat ein Foto von ihm gemacht.”
“Er soll sich im Hintergrund halten”, sagte ich.
“Das weiß er.”
“Wir greifen erst ein, wenn wir die Bestätigung haben, dass er keinen Fluchtweg mehr hat.”
“In Ordnung.”
Kommissarin Morgenstern hatte uns das Bild weitergeleitet, das Rachert geschossen hatte. Hermlin war darauf zu sehen. Er saß am Steuer des BMW und schien zu warten. Eine Hand war am Lenkrad. Der verkürzte kleine Finger war nicht zu übersehen.
“Eins muss man ihm lassen: Der Mann hat Sitzfleisch”, meinte ich.
“Ich könnte mir denken, dass sein Auftraggeber ziemlich ungemütlich wird, sollte er nochmal scheitern”, vermutete Rudi.
“So oder so möchte ich nicht in seiner Haut stecken”, gab ich zurück.
Wenig später bekamen wir die Bestätigung, dass die Zufahrtsstraßen von den Kollegen kontrolliert wurden. Außerdem hatten sich einige zusätzlich angeforderte Kollegen so postiert, dass es jederzeit möglich war, den BMW zu stoppen, falls Hermlin sich zu einer Amokfahrt entschloss.
Unterdessen näherten wir uns so unauffällig wie möglich dem BMW. Es gab hin und wieder Passanten. Die durften auf gar keinen Fall gefährdet werden.
Wir hatten den BMW schließlich erreicht. Aber Hermlin schien ein untrügliches Gespür dafür zu haben, wann er sich im Visier von Ermittlern befand. Noch bevor Rudi oder ich die Waffe gezogen hatten, startete er plötzlich den Wagen und brach aus der Parklücke aus.
Ein Lieferwagen, der mit leicht überhöhter Geschwindigkeit die Straße in gleicher Richtung entlangfuhr, musste mit quietschenden Reifen bremsen und rutschte seitwärts in ein anderes parkendes Fahrzeug hinein.
Hermlin ließ den Motor des BMW aufheulen. Er trat das Gas voll durch. Der Wagen beschleunigte. Rudi und ich hatten die Dienstwaffen in den Händen. Ich stürzte auf die Straße, stand vor dem abrupt abgebremsten Lieferwagen und riss die Waffe hoch.
Eine Kugel in die Reifen und der BMW hätte seine Fahrt kaum noch fortsetzen können. Aber zwischen mir und dem BMW befand sich eine Frau mit Kinderwagen, die gerade die Straße überquerte.
Es war ausgeschlossen, jetzt zu feuern.
Der BMW hatte beinahe die nächste Ampel erreicht. Die stand auf rot, aber das würde Hermlin wohl kaum daran hindern, einfach rücksichtslos weiterzufahren.
Da brach ein anderes Fahrzeug aus einer Parklücke aus. Es handelte sich um einen Geländewagen mit Kuhfänger.
Ein Fahrzeug aus dem Fuhrpark des BKA.
Hermlin krachte mit seinem Wagen in dessen Rückfront hinein. Da er noch versucht hatte, seitlich an dem Gelände vorbeizukommen, schrammte der BMW nun nach links und stieß gegen ein Straßenschild.
Ich spurtete los. Rudi war mir dicht auf den Fersen und aus einer Hausnische kam Kommissar Rachert vom BKA-Büro Berlin hinzu.
Die beiden Kollegen aus dem Geländewagen sprangen ebenfalls mit gezogener Waffe aus ihrem Fahrzeug.
Ich riss Hermlins Fahrertür auf.
“BKA! Herr Sergej Hermlin, Sie sind verhaftet! Lassen Sie die Hände am Lenkrad, bis ich Ihnen die Waffe abgenommen habe und steigen Sie sehr vorsichtig aus!”
“Das muss eine Verwechslung sein”, meinte Hermlin.
“Das glaube ich kaum”, meinte ich. “Und wenn Sie jetzt sehr klug sind, dann arbeiten Sie mit uns zusammen. Denn andernfalls werden Sie kaum mit Nachsicht rechnen können.”
“Gerichte mögen Auftragskiller nicht”, ergänzte Rudi. “Und ich glaube kaum, dass Sie wollen, dass Ihr Boss mit einem blauen Auge oder vielleicht sogar völlig ungeschoren davonkommt, während man für Sie die Höchststrafe beantragen wird!”
“Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!”, meinte er.
“Das glaube ich schon”, gab ich zurück. “Aber bevor Sie jetzt noch etwas Unüberlegtes sagen, sollten wir Sie vielleicht über Ihre Rechte aufklären.”
38
Es war bereits dunkel. Börneburg hatte sich in ein Lichtermeer verwandelt. Selim Savonian nahm bereits den zweiten Drink. Er sah nervös auf die Uhr. In der Bar herrschte Hochbetrieb. Stimmengewirr erfüllte den Raum.
Selim Savonian griff zu dem Wegwerf-Handy, das er für die Kommunikation mit Sergej Hermlin benutzte und schickte eine Nachricht, die er mit dem Daumen tippte.
Wo bleibst du?, lautete sie.
Die Antwort ließ nur wenige Augenblicke auf sich warten. Bin gleich da. Wurde aufgehalten.
Savonian trank sein Glas leer. Die Minuten krochen quälend langsam dahin. Jemand lachte ziemlich aufdringlich und übertönte die leise Musik im Hintergrund. Selim Savonian versuchte, die Tür im Auge zu behalten, was aber nicht so einfach war. Zu groß war um diese Zeit das Gedränge. Aber genau das war der Grund dafür, sich hier zu treffen. Ein belebter Ort, an dem man deswegen relativ sicher sein konnte, nicht beobachtet zu werden.
“Hallo, Selim”, sagte eine Stimme hinter ihm.
Selim Savonian drehte sich herum. Er hatte nicht bemerkt, wie Sergej Hermlin in den Raum gelangt war. Aber jetzt stand er vor ihm.
“Ich habe den ganzen Tag über die Lokalnachrichten gehört”, sagte Savonian. “Aber die haben nichts über diesen Leichen-Doc aus Bayern gebracht.”
“Fahndungstaktik”, sagte Hermlin.
“Aber ich dachte, du wolltest diesen Doc mit Sprengstoff erledigen. Und so eine Explosion kriegen viele mit. Die Nachricht darüber lässt sich nicht einfach so unterdrücken.”
“Ich habe mich umentschieden”.
“Ich hoffe nicht, dass du mich veralbern willst.”
“Nein, das würde ich niemals wagen, Selim. Ganz bestimmt nicht.”
“Was ist passiert?”
“Ich habe den Doktor relativ unauffällig umgebracht. In einer Seitenstraße. Leider war ein BKA-Kommissar zu seinem Schutz dabei, den ich ebenfalls kalt machen musste. Und das ist der Grund, warum wir uns hier treffen. Ich brauche einen finanziellen Nachschlag, um ein paar Vorkehrungen treffen zu können, damit ich untertauchen kann. Denn ich fürchte, dass die inzwischen wissen, wer ich bin.”
“Wie konnte das passieren?”
“Keine Ahnung. Vielleicht ist ihnen mein Wagen aufgefallen, vielleicht beobachten die mich schon länger… Dass braucht dich nicht weiter zu interessieren, Selim, denn dein Problem ist nun gelöst. Der Doktor ist tot.”
“Gut.”
“Und jetzt hilf du mir, mein Problem zu lösen.”
“Wie viel brauchst du?”
“Etwa dasselbe, was du mir schon einmal gezahlt hat. Und das möglichst schnell und in bar.”
Selim Savonian griff in die Innentasche seines Jacketts. Er holte einen Bündel Geldscheine hervor. “Mehr habe ich im Moment nicht bei mir. Geh zu Mustafa in Frankfurt. Der macht zurzeit sehr gute Papiere. Ich kann dir die Adresse geben.”
“Ich kenne ihn”, versicherte Sergej Hermlin und zählte kurz das Geld durch. “Reichen wird das noch nicht.”
39
“Aber uns reicht es”, sagte ich. Wir hatten alles mitangehört. Sergej Hermlin war verkabelt gewesen. Rudi, ich und mehrere Kollegen hatten sich unter die Gäste der Bar gemischt. Und jetzt schlugen wir zu. Rudi nahm Hermlin das Geldbündel ab, während einer der Kollegen aus Börneburg Selim Savonian Handschellen anlegte.
“Herr Selim Savonian, wir verhaften Sie wegen Verabredung zum Mord in mehreren Fällen.”
Selim Savonian wollte etwas sagen. Aber sein Mund blieb offen. Er starrte nur fassungslos in Richtung von Sergej Hermlin. Um dessen Lippen spielte ein zynisches Grinsen, das sich allerdings etwas abschwächte, als auch ihm Handschellen angelegt wurden.
ENDE
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