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Читать книгу 100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 2 онлайн

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Am nächsten Morgen bin ich vor der Weiterfahrt schon kurz vor fünf Uhr am See. Es ist frisch, aber wunderschön, und außer ein paar Lauten der Natur ist nichts zu hören. Ich gehe am Ufer entlang, höre in die unendliche Weite hinein und schaue der Sonne zu, wie sie langsam den Horizont erklimmt und dafür sorgt, dass gegenüber leichte Nebelschwaden über dem dort dunklen Wasser schweben. Es scheint, als dass diese grauweisen, dünnen und utopischen Gebilde erst ganz vorsichtig ihren Weg ertasten, um sich ihm dann behutsam und zögernd anzuvertrauen. Und diese schwebenden Schleier passen auch zu ihrer Umgebung, die behutsam und friedlich ist, nicht spektakulär und kalt oder harsch und abweisend. Sie ist gut fürs Gemüt, und das Spektakuläre ist nicht weit weg. Ich mache einige Fotos und lausche dann auf dem Bootssteg der Stille und dem zaghaften Plätschern der winzigen Wellen, wenn sie sich von der Uferlinie gestört fühlen. Und mitten in diese Träumerei hinein dringen unverhofft die Schreie eines „Loon“, und erstmals ist er mir auch so ganz nahe. Mir läuft es eiskalt über den Rücken, aber für das Herz fühlt es sich an wie Sehnsucht und Wärme zugleich. Sein Ruf ist wie ein Urschrei der Natur, kräftig, laut und einfühlsam klagend. Das Repertoire dieser Seetaucher an Rufen, ein extrem lautes, melodisches Heulen, das sich weit trägt, ist erheblich, doch dienen die wenigsten Rufe dem Gesang, sondern der Suche nach dem Partner oder der Revierbeanspruchung. Wer diese großen und schönen Schwimmer, die bis zu 8 Minuten tauchen können, nicht kennt und sie nachts überraschend hört, wenn sie mit ihren Warnrufen kreischend lachen oder krächzen, dem dürfte so mancher Schreck in die Glieder fahren. Mit ihren weit am hinteren Körper angebrachten Beinen können sie kaum laufen, nisten unmittelbar am Wasser und kommen in Westkanada als Eis-, Stern-, Pracht- oder Pazifiktaucher vor. Im Sommer tragen sie alle ihr prächtiges Brautkleid, das auf der Oberseite größtenteils schachbrettartig schwarz-weiß gefärbt ist und der weißen Unterseite den Rang abläuft. Ihr langer Hals ist mit gelben, weißen oder roten Ringen farbenprächtig abgesetzt, und aus dem oft schwarzen Kopf leuchten große, rote Augen mit dunklen Pupillen. Wenn die Wälder mit der Ankunft des Frühlings zu neuem Leben erwachen, dann sind auch diese eleganten Wasservögel, die 30 Lebensjahre erreichen können, wieder zu ihren Seen unterwegs und dulden dort mit ihrem schaurig schönen Gesang keinen Nebenbuhler. Ende März, wenn das Eis schmilzt, trifft der erste Loon ein und nimmt sein altes Revier wieder in Besitz, während sein Partner etwas später von der Küste nachkommt, um fünf gemeinsame Monate zu verbringen. Im Juni beginnt der Nestbau ganz nahe am Wasser, denn nur dort fühlen sich die rasanten Unterwasserjäger sicher, die bis zu achtzig Meter tief tauchen und dabei Luft aus Federn und Luftsäcken ablassen können. Wenn die Küken schlüpfen, folgen sie ihren Eltern sofort ins Wasser und kehren anschließend für zwei bis drei Tage ins Nest zurück. Danach kommen sie erst wieder an Land, wenn sie selbst brüten. Geschwisterliebe kennt der Nachwuchs nicht, denn der Ältere hackt die Jüngeren von den Eltern weg, um selbst den Platz auf deren Rücken zu erobern. Bei diesem Kampf um Leben oder Tod greifen die Eltern nicht ein, und die Verlierer sterben an Hunger und Unterkühlung. Vielleicht, weil das Gesetz der Natur es erfordert, dass nur einer, der Stärkere, überlebt? Anfang September versammeln sich die Loons auf großen Seen und verhalten sich dabei neutral, weil diese Gewässer keine Territorien darstellen. Hier machen sie Bekanntschaft mit anderen ihrer Gattung und bilden Paare, danach gehen sie wieder eigene Wege. Erst, wenn der Winter zum Flug in den Süden mahnt, finden sie sich in großen Schwärmen bis zu einhundert Vögeln zusammen, brechen aber einzeln oder in Paaren auf. Danach wird es an den Tausenden von Seen wieder still, bis das urzeitliche Heulen dieser Überlebenskünstler, das seit mehr als zwanzig Millionen Jahren ertönt, im Frühjahr wieder zu vernehmen ist. Diese Loons haben mich tief berührt, und sie tun das immer wieder, wenn ihr uriger Gesang mein Ohr erreicht. Und es sind wohl diese Laute, diese unterscheidbare tiefe, einsame, zu Herzen gehende Melodie, die das Innere aufwühlt, die man mit dem Ruf der Wildnis Kanadas gleichsetzen kann, vielleicht sogar muss. Man fühlt dabei alles, Freiheit, Unendlichkeit, Weite, gewaltige Natur, unser kleines, vergängliches Menschenleben, Überlebenskampf und Wildnis. Und in den Minuten am Clearwater Lake, als ich „meinem“ Loon lausche, muss ich an einen Indianerspruch denken, den ich irgendwo gelesen habe: „Das Sonnenlicht hinterlässt keine Spuren im Gras, halten auch wir uns daran, und gehen mit der Natur genau so behutsam um.“ In diesem Moment des Erlebens kann ich verstehen, was damit gemeint ist. Den Ruf des Loons werde ich nie wieder vergessen, und auch das indianische Sprichwort nicht, dass das dazu sagt: „Der Eistaucher schreit, weil ihm jemand zuhören soll, und seine Augen sind rot vom Weinen.“ Ja, auch so hört es sich an.

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