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Während sie ihre Medikamentenmischung trinkt, denkt sie über den am Vormittag bevorstehenden Termin nach. Eine Reporterin möchte sie interviewen. Fünfundzwanzig Jahre ist sie jung, weiß sie von Enrico Sommer, der das Treffen arrangiert hat. Jutta steht nicht gern im Mittelpunkt und möchte nicht über sich und ihre Familie ausgefragt werden. Mit ihren Falten und dem alternden Körper von der Kamera eingefangen und auf zahlreiche Bildschirme projiziert zu werden, bedeutet Horror pur für sie. In drei Wochen wird sie den neunzigsten Geburtstag und ihr dreißigjähriges Geschäftsjubiläum feiern. Also hat sie zugestimmt. Es ist viel schief gelaufen in ihrem Leben, doch auf diese späte Leistung ist sie stolz. Je bekannter ihr Geschäftsmodell wird und je mehr Nachahmer es findet, desto größer ist der Erfolg. Also wird sie darüber erzählen, solange sie das noch kann.

An das Frühstücksbuffet im Gemeinschaftshaus mag Jutta nicht gehen, sie rührt am Küchentisch ihr Müsli zusammen und löffelt es noch im Nachthemd. Sie will sich nicht vor Aufregung ihre Kleidung bekleckern. Ihr Blick fällt auf die Plastikseiten der gestrigen Tageszeitung. Doch sie wird sich die aktuelle Ausgabe erst am Mittag herunterladen, wenn sie dieses Gespräch hinter sich hat, jetzt kann sie sich ohnehin nicht konzentrieren. Oder doch wenigstens die Seiten, die ihre Firma betreffen? Denn die wird sie nachher der Journalistin – ach nein – Medialistin heißt das heute – auch zeigen. Vorerst muss sie sich der Kleiderfrage widmen. Ausgerechnet heute soll es so heiß werden, dass Jutta es im Freien nicht aushält, aber garantiert im klimatisierten Raum friert. Sie greift zu ihrer atmungsaktiven grünen Lieblingsbluse und der beigen Hose aus einer hauchdünnen und blickdichten Brennnesselfasermischung. Erst vor zwei Wochen hat sie diese sich auf der Haut so angenehm anfühlende Hose im neuen Geschäft der Bornaer Naturfaserfabrik in Neuseenstadt gekauft und seitdem fast täglich getragen. Noch die praktische Magnetverschlusskette umgelegt, mit der Bürste durch die spärlich werdenden grauen Haare gefahren und einen kurzen Gedanken Dankbarkeit zugelassen, dass sie das alles noch selbstständig verrichten kann. Ihre Mutter war mit siebenundsiebzig Jahren im Pflegeheim gestorben. Nach einem Schlaganfall hatte die ehemalige Krankenschwester drei Jahre in hilflosem Zustand verbracht, gelähmt und mit Komplettausfall des Sprachzentrums. Gerade in dieser Zeit hatte Jutta nach längerer Arbeitslosigkeit eine neue berufliche Chance ergriffen. Während sie versuchte, die täglichen Herausforderungen zu bewältigen, ging sie in emotionaler Hinsicht durch solche Höhen und Tiefen, dass kaum noch Raum blieb für Gedanken an andere. Sie hätte selbst den Rückhalt gebraucht, den sie der kranken Frau nicht geben konnte. Später bereute sie tief, die Mutter in ihrer letzten Lebensphase allein gelassen und kaum besucht zu haben. So hatte sie wenig von den Missständen in diesem Haus mitbekommen. Sie hatte gedacht, das sei nicht zu ändern, wenn das Geld wichtiger ist als der zu betreuende Mensch. Auch die Pflegekräfte waren Zwängen und chronischem Zeitmangel ausgesetzt.

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