Читать книгу TÖDLICHE BEGIER.DE. Jugendthriller онлайн
9 страница из 9
„Dieser Typ konnte mir nicht in die Augen sehen, der hat irgendetwas Gefährliches an sich“, erklärte er Afra, die ihn mit schräggestelltem Kopf und total wachen, hellbraunen Augen fixierte. Ihre intensivwedelnde Rute signalisierte absolutes Verständnis.
Sie paddelten ohne große Mühe über den Kanal und eilten zur Ise-Brücke. Alex atmete auf, als kein Pickup von Grossek an der Reviergrenze stand, an der er ihn oftmals gesehen hatte, unter einer Trauerweide, direkt vor der Brücke. Stattdessen parkte genau an dieser Stelle ein roter Polo.
Er merkte sich das Kennzeichen >GF-LW 1982<.
Afra tapste neben Alex über die Brücke, hob ihre Nase witternd in den Wind, der vom gegenüberliegenden Waldrand über die Wiese strich. „Irgendetwas beunruhigt sie sehr“, stutzte Alex und blickte durchs Fernglas. Nichts! „Komm’, ganz leise!“, raunte er ihr zu, „mal sehen, was da los ist.“ Sein Puls schlug schneller. Sie folgten gespannt der von Treckern niedergewalzten Spur durch das hohe Wiesengras. Links von ihnen tauchte die Abendsonne hinter die hohen Buchen und Eichen. Rechts stieg die Ahnung eines Nebelschleiers aus der Ise. Es war bereits kurz nach 22.00 Uhr.
Unvermittelt stoppte Afra, hielt Ohren und Nase in den Wind, blickte zu Alex. Alex bremste den Atem, um besser hören zu können. Zwanzig Meter vor ihnen linker Hand lag versteckt am Waldrand Alex’ Hütte. Rechts dieser Hütte, jetzt direkt vor ihnen, teilte sich der Wald. Ein bemooster Waldweg wurde sichtbar. Alex hob das Fernglas und entdeckte etwa hundert Meter entfernt ein schwarzes Auto. „Sieht aus wie ein Pickup“, flüsterte er und legte Opas Schild ins Gras.
Plötzlich Stimmen, weit entfernt. Alex befahl: „Afra, leise, sei ruhig!“ Sie schlichen tief gebückt durch die hohen Gräser, schlugen einen kleinen Bogen, um nicht direkt am Waldweg aus der Wiese treten zu müssen. Sie steuerten den parallel zum Waldweg führenden Graben an, mit knöchelhohem Wasser und Moos an den Wänden. Lautlos legte Alex einen Pfeil auf die Bogensehne und überprüfte mit der rechten Hand den Sitz seines Messers. Das um seinen Hals baumelnde Fernglas klemmte er unter seine rechte Achsel, damit es ihn beim Anschleichen nicht behindern konnte.
Er glitt lautlos die Graben-Böschung hinunter in das lauwarme, modrig-riechende Wasser und gab Afra den Befehl: „Down! Bleib!“ Afra gehorchte aufs Wort. Sie legte sich ab, ihr Rücken samt Stummelschwänzchen ragte aus dem Wasser. Sie rührte sich nicht. „Wenn’s drauf ankommt, hörst du aufs Wort, cool“, flüsterte Alex lobend, „bleib’ liegen, bin gleich wieder zurück!“ Sie protestierte zwar leise mit einem heftigen, lautlosen Gähnen, blieb jedoch liegen, die Ohren nach hinten gedreht.
Alex schlich tief gebückt den Graben entlang, siebzig, achtzig Meter. Plötzlich hörte er: „Lena, Prosecco, herrlich kühl, du willst auch?“
Alex kroch geräuschlos die Grabenböschung empor, drückte das Gras auf der Grabenkante mit dem Fernglas flach und erschrak: Er erblickte einen riesengroßen, splitternackten, behaarten Hintern, keine zehn Meter rechts vor ihm neben dem ihm bekannten schwarzen Pickup. Er sah, wie der Kerl in ein halbvolles Sektglas mehrere Tropfen aus einem kleinen Fläschchen träufelte und beschwörend säuselte: „Davon gehen deine Kopfschmerzen weg, inschallah!“ Sein Lachen klang zynisch, aufgesetzt. Alex sah, wie sich links neben dem Pickup Frauenarme aus den Gräsern erhoben und sich dem Mann fordernd entgegenstreckten. „Trinkst du nicht mit?“, fragte eine hohe Stimme. „Jetzt nicht“, brummte er, flößte ihr das Gemisch in ihren bereitwillig geöffneten Mund und schleuderte das Glas mit einer grässlichen Lache in die Dickung. Er legte sich lustvoll grinsend zwischen die ausgestreckten Arme. Die Heideröschen, Schachtelhalme und Farne verschlangen ihn. Nur der Hintern hob und senkte sich im Sekundentakt.
Alex verharrte einige Minuten regungslos, sein Herz pochte, mit dem Herzschlag auch das Fernglas vor seinen Augen. Er hatte keine Lust auf diesen Hintern. Dann: Ein helles, unterdrücktes Quieken, ein brummiges Stöhnen, ein hechelndes Keuchen, ein zufriedenes Lachen …
Ich müsste verschwinden. Es gehört sich ja nicht zu spannen, aber das komische Lachen, die Tropfen, da stimmt was nicht, grübelte er und erschrak. Ein vorlauter Eichelhäher flog zeternd und kreischend dicht über seinen Kopf hinweg. Wenn dieser Arsch die Sprache der Tiere versteht, wird er jetzt gewarnt sein, fürchtete Alex und wollte gerade zurückrobben, als der lange Kerl plötzlich aufstand und prustend rief: „Ich muss mal für kleine Männer, musst warten, Lena!“
Alex stockte der Atem, weil er hörte, wie der Typ in seine Richtung kam, immer näher, immer näher. Alex presste sich an die Böschung, tastete nach seinem Messer. Pfeil und Bogen lagen zu weit entfernt. Die Dämmerung und der Dunst der blauen Stunde könnten mir helfen, folgerte er. Sein Herz pochte rasend schnell und laut. Plötzlich sah er ihn über sich, mehr seine Silhouette. Direkt vor ihm am Grabenrand stand er, breitbeinig, total nackt, pfiff ein Lied, das Alex nicht kannte und blickte in den Abendhimmel. Der Strahl schoss knapp an seinem Fuß vorbei und klatschte ins Wasser.
Der Ammoniakgeruch des Urins drang in Alex’ Nase. Er traute sich kaum zu atmen. Der Mann trat einen Schritt zurück. Alex hörte, wie er sich wieder entfernte und die Frau ihn mit schläfrigen, liebevoll-flüsternden Worten empfing.
Das Ganze gefiel Alex nicht, wahrscheinlich, weil er nicht mehr genug erkennen und verstehen konnte und weil er Angst hatte, entdeckt zu werden. Er schlich durch das knöcheltiefe Grabenwasser zurück. Als Afra ihn zurückkommen sah, sprang sie auf, riss gähnend ihren Fang auf, ihre Augen blitzten, ihr ganzes Hinterteil samt Schwänzchen wackelte aufgeregt. „Hast du fein gemacht, Afra“, flüsterte Alex ihr ins Ohr und drückte sie fest an sich.
Alex hatte das sonderbare Verhalten dieses fremdartigen Mannes im Kopf und wunderte sich, dass überhaupt eine Frau Interesse an einem solchen Kotzbrocken finden würde.
„Afra, lass’ uns hier verschwinden. Komm, ab nach Hause.“
Sie hörten das aggressive Aufheulen des Pickup. Als sie über die Ise-Brücke hasteten, sahen sie den Polo unter der Trauerweide stehen. „Der Kerl hat die Frau bestimmt zu sich nach Hause genommen“, erklärte er Afra, „Lena heißt sie, das habe ich gehört. Die muss blind sein oder es nötig haben!“
Zuhause angekommen, erzählte er seiner Oma von seiner Begegnung mit diesem dunkelhaarigen Fremden und seiner Beobachtung mit der jungen Frau.
„Oma. Der hat ihr womöglich k.o.-Tropfen in den Sekt getan“, mutmaßte er, „ich weiß es zwar nicht genau, aber, da ist was faul, oberfaul!“
Sarah von Trendel erblasste, reagierte, ihre Sorge überspielend: „So, wie du den Kerl beschreibst, ist das wirklich der Jagdaufseher Theo Grossek. Der jagt jedem einen Schrecken ein, weil er Jogger oder Sammler als Eindringlinge in sein Revier betrachtet. Und das war bestimmt seine Freundin, mit der er sich amüsiert hat“, hüstelte sie verlegen und dachte erschrocken an die Tropfen, die sie Grossek des Öfteren zusammengebraut hatte. Sie war erleichtert, als sie bemerkte, dass Alex’ Augen vor Müdigkeit fast zufielen und Afra unmissverständlich klarmachte, dass ein leerer Fressnapf eine absolute Zumutung sei, besonders nach diesem nächtlichen Abenteuer.
Als sie sich über das Trockenfutter hermachte, kaum kauend, einfach hinunterschlingend, nahm er sich vor, am nächsten Tag seinem Freund Marc und seiner Liebsten Kati von dieser Beobachtung zu berichten.
Ich hätte auch Lust, mit Kati im Gras zu liegen, dachte er und stellte sich vor, wie sie ihn überall küssen würde.
Er lächelte und schloss die Augen. Er sah sie vor sich, spürte ihre Hände, träumte, dass sie … und schlief ein. Neben ihn legte sich Afra auf die Bettdecke, leckte einmal, wie aus Versehen, über Herrchens Nasenspitze und schloss die Augen.
Alex war der Letzte, der Lena gesehen und gehört hatte.
Er konnte nicht ahnen, dass er seine Neugier mit dem Leben bezahlt hätte, wäre er erwischt worden.
Geheime Kräfte
Alex’ Oma, Sarah von Trendel, Kunstmalerin, Biologin und Heilkräuter-Expertin, stand am nächsten Morgen vor ihrer Staffelei und betrachtete den Fingerhut, den sie aus ihrem Garten in Öl auf die Leinwand gezaubert hatte. Leuchtend rosafarben, glockenförmig, nahezu kerzengerade, verführerisch und ...doch so gefährlich“, murmelte sie und tupfte eine Winzigkeit von Schwarz auf die fast unscheinbar ausgezogene Unterlippe einiger Blütenkronen, als wollte sie neben dem strahlendblühenden Leben die erhöhte Todesgefahr andeuten.
„Ein Fingerhut voll Gift kann töten“, sinnierte sie, „er kann auch heilen. Nur wenige kennen die heilende Kraft unserer Pflanzen. Es ist schade, dass wir unser Wissen kaum weitergeben können, weil es die jungen Leute nicht wirklich interessiert.“
Sie trat an ihr großes, bis zum Boden reichendes Atelierfenster und öffnete beide Fensterflügel. Sie zog die frisch-duftende Morgenluft tief in ihre Lungen.
Ein Kuckucks-Pärchen begrüßte sie abwechselnd mit seinem weit hörbaren Morgengruß, während ein Buntspecht wie ein ratternder Dampfhammer tiefe Löcher in die Borke einer uralten Kiefer rammte.
Sie dachte an ihren Vertrauten Johannes, einen alten, weisen Gelehrten, der ihr unendlich viel Trost nach dem Tod ihres Mannes gegeben hatte.
Er wurde zwei Jahre später unheilbar krank und flehte sie an, seinem Leiden ein Ende zu setzen. Er könnte die Schmerzen trotz starker Medikamente kaum ertragen und wollte seiner Umwelt auf keinen Fall zur Last fallen, denn er hasste es, keine Kontrolle mehr über seinen Verstand und seinen Körper zu haben. „Wenn ich nicht mehr kann, nicht mehr will, dann gibst du mir die Tropfen, Tränen des Fingerhutes, schwörst du es?“
War es richtig oder falsch, ihm geholfen zu haben? Wiegt der Wunsch eines Todkranken nicht mehr als das von Menschen gemachte Gesetz, seufzte sie voll innerer Zerrissenheit. Darf ein Mensch als Prophet die nahe, unabwendbare Endlichkeit eines Menschen vorhersagen und in das Schicksal eingreifen?
Wer richtet darüber, wenn man dem Todgeweihten hilft, den erlösenden Trunk selbst zu nehmen, wenn er bei Verstand ist und wirklich weiß, was er tut?
Sie straffte ihren Körper, schaute der aufgehenden Morgensonne entgegen und rief: „Und wenn mich alle Welt verurteilt, ich musste meinem Herzen folgen!“
Als sie die Fensterflügel schloss, wollte sie gleichsam dieses sie quälende Kapitel in ihrem Leben schließen. Eine dunkle Ahnung warnte sie, dass irgendetwas geschehen würde. Die Ungewissheit machte sie unruhig, da man damals über den Tod ihres Mannes und später über die Sterbehilfe gemunkelt hatte, ihr jedoch nichts hatte nachweisen können.
Das Telefonläuten unterbrach Sarahs Gedanken. Es war ihr unangenehm, so früh morgens, fast mitten in der Nacht, gestört zu werden. Als ob sie es geahnt hätte, drückte sie mürrisch den grünen Knopf ihres Handys und meldete sich, nicht gerade freundlich:
„Von Trendel, wer stört mich so rücksichtslos?“
„Ich, weißt du! Kein Name am Telefon!“
„Ich wusste doch, dass mir der Tag vergällt wird. Was willst du von mir?“
„Ich brauche neues Gift, es muss Halluz erzeugen, Krämpfe auslösen und aggressiv machen. In einer Stunde hole ich das Fläschchen, also beeil’ dich, inschallah!“
„Du bekommst nichts mehr von mir! Ich ahne, wofür du die Droge brauchst. Ich will mich nicht mitschuldig machen!“
„Was geht’s dich an? Wenn du unseren Deal nicht einhältst, wirst du sehen, was du davon hast. Die Bullen und Heidjer werden sich freuen!“
Nach einem kurzen Schweigen zischte sie ins Telefon:
„Ist gut, das ist das letzte Mal. Komm’ gegen acht Uhr an die Hintertür, klar?!“ Sie knallte das Handy wütend gegen die Staffelei. Es prallte ab, das Gehäuse zerlegte sich in zwei Teile, der Akku flog durch den Raum.
„Verflucht sei er“, schimpfte sie, „seit ich mich ihm verweigere, erpresst er mich!“
SterbehilfeTrendelburg
„Grossek ist doch total verrückt“, murmelte Sarah zornig, „ich will es jetzt wissen, wofür er diese Tropfen verwendet. Womöglich mache ich mich mitschuldig. Das muss ein Ende haben. Heute bekommt er sie zum letzten Mal, mit einer total anderen Wirkung. Diese Tropfen können überhaupt nichts anrichten!“
Wütend stampfte Sarah in ihre Kräuterküche. Widerwillig entnahm sie einer kleinen Holzkiste eine Handvoll getrockneter Fruchtkörper des Spitzkegeligen Kahlkopfes, kippte die Masse in einen Glaskolben, fügte fünf Milliliter destillierten Wasser hinzu, erwärmte den Kolben über einem Bunsenbrenner auf etwa sechzig Grad, während sie mit einem Glasröhrchen die Masse verrührte.
Psilocybin
Hexenküche
Als sie gerade das Fläschchen im Küchenschrank mit einem ohnmächtig-rebellischen Seufzer versteckt hatte, stürmten Alex und Afra lautstark in die Küche. Alex begrüßte seine Oma mit einer liebevollen Umarmung und einem Küsschen auf die von Falten durchzogene Wange. Afra kroch unter den Küchentisch, schnappte sich ihr blaues Näpfchen und baute sich vor ihnen auf mit dem flehenden Blick, doch endlich ihr Fresschen zu bekommen.
Sie waren nicht ganz fertig mit dem Frühstück, als Alex’ Smartphone vibrierte. Am anderen Ende hörte er Marcs angenehme Stimme.
Alex rief aufgeregt ins Smartphone: „Marc, warte mal, ich frage meine Oma!“
„Omi. Marc ist am Telefon. Er und Kati wollen meine neue Hütte sehen, dürfen sie heute Abend bei uns mitessen?“
„Natürlich!“
Alex beschrieb Marc den Weg ins Junkernholz von Hankensbüttel aus. Sie beendeten das Gespräch, weil Marc zur Schule gehen musste, es war bereits kurz nach sieben Uhr.
Da Marc und Kati Unterricht hatten, die Sommerferien in Niedersachsen begannen 14 Tage später als in Nordrhein-Westfalen, konnten sie beide erst gegen 14.00 Uhr an diesem Freitagnachmittag losfahren. Sie wollten sich auf der IseBrücke gegen 14.30 Uhr treffen.
„Kati, deine neue Freundin?“, fragte Oma vorsichtig lächelnd, „Du weißt, ich bin total neugierig und will wissen, wie dein Liebesleben aussieht!“
„Ach, Oma, die ist ja sehr süß, wer weiß, ob sie mich überhaupt cool findet!“
Sarah schaute ihrem Enkel aufmunternd ins Gesicht und bemerkte trocken, dass er bis auf die schwarz-kurze Lockenpracht und die dunklen Augen genauso aussähe wie sein Vater, sich also wirklich nicht zu verstecken brauchte.
„Hat Papa eigentlich angerufen, wo er gerade steckt und wann er zu uns kommt“, fragte Alex.
„Du, er hatte im Krankenhaus länger zu tun. Heute Abend kommt er, früher als sonst!“
„Oh, schön. Übrigens: Marc und Kati fahren mit ihren Rädern den Betzhorner Damm entlang. Auf der Ise-Brücke treffen wir uns, den Weg von dort zu uns finden sie nicht allein!“
Nach dem Frühstück räumte Alex das Geschirr in die Spülmaschine, die Marmelade, den Aufschnitt und den Käse in den Kühlschrank. Afra hoffte, dass ein Stück des Aufschnitts in ihrem Fang landen würde, was auch tatsächlich, oh Wunder, geschah! Dann schnappte sich Alex die Angel und das dazugehörende Angelzeug.
„Oma, wir gehen jetzt angeln. Morgens beißen die Fische gut! Wenn Marc und Kati nachher da sind, können wir die Fische räuchern oder grillen. Zu Mittag sind wir jedenfalls pünktlich wieder zurück. Tschüss, Omi!“
Und sie machten sich auf zur Ise. Es war kurz vor acht Uhr, der Beginn eines seltsam warmen Sommertages.
Sarah von Trendel empfing kurz nach acht Uhr ihren ungebetenen, verhassten Erpresser.
Kämpferisch eingestellt, öffnete sie auf das Läuten der Hausglocke hin die hintere Eingangstür zur Küche. Diesen Nebeneingang, geschützt von üppigem Weinlaub, umrahmt von jungen Edeltannen und einem mit gelben Rosen berankten Halbbogen, nutzten diejenigen, die nicht unbedingt bei Frau von Trendel gesehen werden wollten. Zeitgenossen etwa, die Schlechtes im Schilde führten oder chronisch Kranke, die auf dem Kriegsfuß mit den herkömmlichen Medikamenten standen und mehr der Wirkung der Heilkräuter vertrauten. Außerdem sah der Hausarzt es nicht gern, wenn ihm jemand ins Handwerk pfuschte oder man mehr Vertrauen auf das Wissen der Kräuterhexe gab als auf das Können des studierten Arztes. Und so etwas erfuhr der Arzt sofort. Irgendwie gab es überall Augen und Ohren.
Grossek stand vor ihr im Türrahmen, schlitzäugig, um ihre Stimmung zu erkennen, streckte die Hand aus und flüsterte: „Was ist? Hast du’s?“
Sie gab ihm das kleine, mit Wachs versiegelte Fläschchen und schob ihn ohne Kommentar und Gruß hinaus. Sie wollte nichts wissen, nichts damit zu tun haben. Sie ärgerte sich maßlos und überlegte wieder einmal, wie sie sich aus dieser Situation heraus winden könnte.
„Eigentlich müsste ich dich vergiften“, giftete sie hinter ihm her, „dann hätte ich endlich Ruhe!“
Geheimnisse
Sarah von Trendel las das Geschriebene aufmerksam durch, faltete das Schreiben und steckte es in einen Umschlag mit dem Vermerk: „Zu öffnen nach meinem Ableben!“
Den Umschlag legte sie in eine kleine Kassette und schloss diese in ihrem Tresor im Kaminzimmer ein.
Dann ging sie in die Küche, um das Mittagessen zuzubereiten. Es sollte nur eine Kleinigkeit geben, weil die Hauptmahlzeit gegen Abend geplant war. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihrem Sohn Rudolph und war gespannt, welchen Eindruck Alex’ Freundin Kati und sein Freund Marc auf sie machen würden.
Alex brachte seinen Fang gegen Mittag in den Schuppen neben dem ehemaligen Forsthaus, in dem seine Oma seit zehn Jahren wohnte. Er schuppte die Bachforellen und entnahm ihnen die Innereien. Dann legte er seine Beute in den alten Kühlschrank, in dem er Maden und Regenwürmer zum Angeln und auch die Fische kühl lagern konnte. Afra hatte ihn interessiert bei dieser Arbeit zugesehen, wachsam, ob nicht etwas für sie zum Naschen abfallen würde.
„Davon bekommst du nichts, Afra, du pupst dann immer so, und das stinkt tierisch!“ Beleidigt zog Afra das Stummelschwänzchen ein und trottete mit abgeknickten Ohren in Richtung Forsthaus. Alex folgte ihr und schmunzelte: „Sie muss immer von allem etwas abbekommen, natürlich nur aus rein psychologischen Gründen, um deutlich zu machen, dass sie dazu gehört, nicht etwa, weil sie zu verfressen ist!“
Nachdem die kross gebratenen Bratkartoffeln samt Spiegeleier von Oma und Alex, der Rest von Afra, in Windeseile verspeist worden waren, räumte Alex das Geschirr in die Spülmaschine. Der Stapel gelesener Tageszeitungen und Illustrierten türmte sich auf der Eckbank. „Bring sie in die Papiertonne“, bat Oma Sarah, „dein Paps bringt sie oft am Wochenende mit, damit er weiß, was in der Welt los ist. Hier hat er Zeit zum Lesen.“
Sein Blick fiel auf die knallige Überschrift: „Gnadenlose Brutalität“. Er las den Artikel und musste sofort an seine Kati denken.
Scharia
„Das ist eine gute Frage, Alex. Eigentlich ist sie ein aus dem Koran abgeleiteter Leitfaden, nachdem sich gläubige Muslime zu richten haben, in moralischer, rechtlicher und kultischer Hinsicht.“
„Ist das gut? So ähnlich wie unsere Bibel?“
„Naja. Jesus predigte die Liebe untereinander. Er vertrieb die Händler aus dem Tempel, denen der Gewinn wichtiger war als die Barmherzigkeit. Er verzieh den Sündern, starb sogar für sie, für uns. Und wie reagierten die Christen tatsächlich? Früher haben sie Menschen, die anders waren als normal, als Hexen verbrannt oder Gelehrte verbannt, wenn sie etwas behauptet haben, was nicht der Lehrmeinung der Kirche entsprach.“
„Nenn’ mal ein Beispiel.“
„Galileo Galilei zum Beispiel. Er behauptete, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Während die Kirche lehrte, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums sei!“
„Und, was haben sie mit ihm gemacht?“
„Er wurde vom päpstlichen Gericht als Ketzer verurteilt, musste seinen Überlegungen abschwören und kam ins Gefängnis. Er soll gemurmelt haben: >Und die Erde bewegt sich doch!<“
„Von den Kreuzzügen damals habe ich auch gehört. Das war auch nicht christlich, andere Religionen zu vernichten!“
„Daraus und aus anderen Fehlern hat die Kirche gelernt, heutzutage nimmt sie die Menschenrechte ernst.“
„Sicher? Ich weiß’ nur von Papa, dass einer Ärztin gekündigt worden ist, weil sie als Geschiedene wieder geheiratet hat. Was hat das mit Christlichkeit zu tun? Warum drehen so viele der Kirche den Rücken? Sogar Frauen werden doch wie zweite Wahl behandelt! Oder hast du schon eine Pfarrerin oder Bischöfin erlebt, wie bei den Evangelischen? Die übrigens auch nicht so richtig anerkannt werden!“
Oma Sarah hüstelte verlegen und konterte: „In jeder Religion gibt es Ungereimtes, Blödsinniges. Wir Menschen machen oft Fehler, zweifeln, straucheln. Jesus vergibt uns Sündern, steht in der Bibel. Im Islam verzeiht Allah auch den Sündern, aber nur denjenigen, die zu den Gläubigen gehören. Hier wird unterschieden: Es gibt Gläubige und Ungläubige. Die Ungläubigen sind Feinde Allahs und sollen vernichtet werden. Steht im Koran, wird aber oft verniedlicht.“
Burka
„Weißt du, Alex, wie Frauen behandelt werden, besonders christliche, also ungläubige?“
Alex wunderte sich, weil seine Oma sich noch nie so engagiert mit ihm unterhalten hatte.
„Die hochschwangere Christin Mariam Ishag sollte gehängt werden, wegen Gotteslästerung, da sie als Christin einen Übertritt zum Islam ablehnte“, fuhr Sarah von Trendel erregt fort. „Sie sollte vor ihrer Hinrichtung noch hundert Peitschenhiebe erhalten! Wäre das Urteil vollstreckt worden, hätte der Staat Sudan das Sorgerecht für ihre beiden Kinder erhalten, da ihr Ehemann als Christ keine Rechte an seinen Kindern habe. Auch ihr 20 Monate alter Sohn lebte mit Ishag in der Zelle. Ende Mai hatte sie, angekettet an den Beinen, ihre Tochter Maya geboren. Ein weltweiter Proteststurm über Amnesty International hatte erreicht, dass sie vor paar Wochen am 23. Juni von einem Berufungsgericht freigesprochen wurde. Sie soll bald nach Rom fliegen und von Papst Franziskus empfangen werden. Hoffentlich klappt das!“ Sie wischte sich zornig Tränen von ihrer Wange. Alex schwieg betroffen.
Beschneidung
Beschneidung, dachte Alex. Was wird da gemacht? Es muss jedenfalls unmenschlich sein, wenn Oma so entsetzt ist.
„Über all das habe ich mir bislang keinen Kopf gemacht, Oma. Das schockt total. Ich werde mich schlau machen, gemeinsam mit Kati!“
Sichtlich verunsichert stieg Alex in seine dreiviertellange Tarnhose, sein Khaki-Hemd und seine Sandalen. Er schnallte den Gürtel mit seinem Puma-Messer um, legte Afra die Halsung an und verabschiedete sich von seiner Oma.
Mit den Rädern über den Kanal wird schwierig, dachte Alex, aber, was macht man nicht alles. Dann paddeln wir eben zwei Mal hin und her.
Wie wird sie wohl aussehen? Was wird sie anhaben? Hot Pants? Rock? Weites T-Shirt? Sein per SMS angekündigtes Versprechen fiel ihm siedend heiß ein und machte ihn total nervös. Ich werde sie nie verletzen oder ihrer Würde berauben!
Alex stand unter Strom, sein Puls nahm Fahrt auf.
Afra fixierte ihn mit schrägem Kopf und knabberte zustimmend an seinem Handgelenk.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.