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Der Einsiedler hieß das Gedicht, und leise sprach er den Anfang der zweiten Strophe vor sich hin: »Die Jahre wie die Wolken gehen / Und lassen mich hier einsam stehn, / Die Welt hat mich vergessen …« So weit war er mit Eichendorff völlig d’accord, und den subtilen Schmerz, der den Dichter erfüllte, genoss er wie einen köstlichen Likör. Doch was folgte, ließ ihn zusammenzucken, als hätte ihn ein Messerstich mitten in die Brust getroffen: »Da tratst du wunderbar zu mir …« Eichendorff meinte die tröstende Nacht. Aaron aber bezog diese Zeile auf ein wunderschönes Mädchen. Ein solches jedoch trat nicht in sein Leben, obwohl er kaum an etwas anderes denken konnte als daran, endlich eine Frau zu finden, die er wirklich liebte. Aber wie hatte sein Großvater immer gesagt? Men sol nit betn, di zoress soln sich ojsslosn. Worem as di zoress losn sich ojss, lost sich doss leben ojch ojss – Man soll nicht beten, dass das Leid ein Ende nehme. Denn wenn das Leid aufhört, hört auch das Leben auf.

Aaron Silberstein legte Wert darauf, als das genaue Gegenteil seines Vaters zu gelten, und oft hörte man von ihm die Wendung: »Ich bin ganz anders als er.« Vordergründig schien sich das nur auf den Körperbau der beiden zu beziehen, denn der Senior war untersetzt bis füllig, der Junior aber lang und schlank. In Wahrheit aber wollte er sagen: Ich bin nicht so verknöchert, nicht so preußisch und königstreu wie mein Vater, kein Ewiggestriger, noch immer dem Berliner Biedermeier des Vormärz verbunden. In seinen Jünglingsjahren hatte sich Aaron der Haskala verpflichtet gefühlt, der jüdischen Aufklärung, und Moses Mendelssohn, der »jüdische Luther«, wie sie ihn mitunter nannten, war sein Prophet gewesen. Als Student hatte er sich dann unter dem Einfluss seines Freundes Wilhelm Blumenow immer stärker pantheistischen und schließlich sogar atheistischen Positionen angenähert, und öfter hörte man ihn Ludwig Feuerbach zitieren: dass nicht Gott die Menschen gemacht habe, sondern sich die Menschen ihre Götter – jeder Stamm, jedes Volk nach seinen Bedürfnissen und Lebensbedingungen. Zugleich aber hatte er noch immer das im Blut, was sie ihm in der Jeschiwa, der Talmud-Schule, beigebracht hatten, und so hielt er sich nach außen noch immer mehr oder minder streng an die jüdischen Gesetze.

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