Читать книгу Im Bann der bitteren Blätter. Roman. Nili Masal ermittelt онлайн
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Nachdem Nilis Großeltern, Heiko und Clarissa Keller, Anfang der fünfziger Jahre aus dem langjährigen Exil in Bolivien nach Oldenmoor zurückgekehrt waren, hatte ihre Mutter, Elisabeth Keller, damals noch Teenager, ihre beiden letzten Jahre bis zum Abitur in Hamburg verbracht. Danach machte sie aber ihren bereits in Bolivien gefassten Entschluss wahr, nach Israel auszuwandern. Eigentlich meinte Lissy, wie sie von allen genannt wurde, sie sei ja gewissermaßen nur „eine vierteljüdische Deutsche“, jedoch hatten sie die schwerwiegenden Begleiterscheinungen der argen nationalsozialistischen Ära, die sie, ihren Bruder Oliver und ihre Eltern zur Auswanderung genötigt hatten, derart geprägt, dass sie sich innerlich uneingeschränkt ihrem Judentum verbunden fühlte. Dies allerdings in einer absolut konfessionslosen Manier, denn ebenso wie ihr Vater und auch ihr Bruder hielt sie absolut nichts von irgendeinem Glauben und dessen Religionsausübung.2
In Israel eingetroffen, trat Lissy in den Kibutz Halonim in Galiläa ein, am Fuße der Golanhöhen ganz in der Nähe der damaligen Grenze zu Syrien gelegen, und gesellte sich dort zu den vielen Vereinskameraden ihrer vormaligen La Pazer jüdischen Jugendbewegung. Schon während der Kindheit war sie betont naturverbunden gewesen. In den zumeist auf der Hacienda ihrer Nennonkel und -tante verbrachten Schulferien hatte sie sich immer schon besonders für die Aufzucht und Hege von Federvieh interessiert. Diese Vorliebe brachte sie auch bald dazu, hauptsächlich im großen Hühnerstall des Kibutz, dem Lul, beschäftigt zu werden. In der La Pazer Jüdischen Primärschule, die sie sechs Jahre lang besuchte, hatte sie im einschlägigen Religionsunterricht eine solide Grundlage der alttestamentarischen hebräischen Sprache mitbekommen, die es ihr jetzt ziemlich erleichterte, sich rasch der neujüdischen Sprache, dem Iwrith, zu bemächtigen. Es dauerte dann auch nicht lange, bis sie bei der Kibutzleitung den Antrag stellte, Geflügelzucht wissenschaftlich zu studieren, wie ihre „Tante“ Frauke ihr in deren Nachlassbrief ans Herz gelegt hatte. Der Kibutz war erst kurz vor der Staatsgründung Israels von den aus mehreren südamerikanischen Ländern eingewanderten jungen Chalutzim3 gegründet worden und deshalb auch noch nicht besonders wohlhabend. Wegen seiner risikoreichen Grenzlage wurde er zudem von der syrischen Seite aus häufiger von marodierenden Eindringlingen heimgesucht und man stand deswegen stets in angespannter Wachsamkeit bereit. Dennoch rechnete man sich gute Zugewinnmöglichkeiten durch eine Erweiterung der Eier- und Geflügelwirtschaft aus und beschloss, neben Lissy auch ihren Mitarbeiter Iakov an eine spezialisierte Ausbildungsstelle zu entsenden und die dadurch entstehenden Kosten zu tragen. Mit ihrem Freund Ruben Masal, den Lissy noch aus ihrer La Pazer Zeit so gut kannte, weil er in der Bäckerei ihres Vaters gelernt und danach dort als tüchtiger Geselle gearbeitet hatte, war sie erst vor einigen Wochen eine engere Beziehung eingegangen. Ruben war deshalb auch überhaupt nicht begeistert von ihrer ganzwöchentlichen Abwesenheit im Internat, die sich voraussichtlich über die nächsten zwei Jahre erstrecken würde. Sie konnten sich ab jetzt nur an den Wochenenden sehen. Mit großem Eifer widmeten sich alsdann die beiden Ausgewählten ihrem Studium an der Landwirtschaftlichen Ruppin-Akademie in Hefer nordöstlich von Netanya, zwischen Tel Aviv und Haifa gelegen. Lissy war natürlich durch ihr Abitur im Vorteil und konnte ihrem Kollegen in den Fächern Mathematik, Chemie, Physik, Biologie und Englisch erfolgreich unter die Arme greifen. Bei der besonderen Ernährungslehre und den im zweiten Studienjahr schwerpunktmäßig gelehrten Fächern Tierheilkunde und Anatomie sowie Futterlehre traf sie aber ebenso auf Neuland wie Iakov. Dieser revanchierte sich jedoch, indem er anfänglich manche bei Lissy noch vorhandene Sprachlücke überbrückte, denn das Studium stellte nicht alltägliche Forderungen an die Eleven.