Читать книгу Karl -ausgeliefert онлайн
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Wenn das Licht an war, sah er oft seine Hände an. Seine Arme. Er zog sich aus und betrachtete seinen Körper. Das war ER. ER. Die Fußnägel waren zu lang und alles an seinem Körper war schmutzig. Aber das war ER. Aber wer war ER? Nur dieser Körper? Warum war ER nur dieser Körper? Es war für ihn intuitiv klar, dass ER noch mehr war, denn sonst hätte er nicht diese Erinnerungen. Auch wenn er die Gesichter nicht kannte, an die er sich manchmal erinnern konnte, so konnten sie doch nur deshalb in seinem Gedächtnis sein, weil er sie irgendwann wirklich gesehen hatte. Wenn er doch nur wüsste, wie sein Gesicht aussah. Vielleicht würde er dann wissen, wer ER war? Das waren dann die Momente, in denen er nach dem Menschen rief, der ihn hier gefangen hielt. Sein Sprachvermögen war zurückgekehrt und mittlerweile konnte er wieder sinnvolle Sätze bilden. Diese Entwicklung hatte er nicht bewusst wahrgenommen. Für ihn waren alle seine Worte sinnvoll und entsprachen genau dem, was er sagen wollte.
»Hallo? Ist da jemand? So komm doch her! Sag mir, wer ich bin und warum ich hier bin. Ich habe kein Wasser mehr, kann ich noch welches bekommen? Halloooo? Ist denn niemand da?« Stets blieb sein Rufen scheinbar ungehört. Und die temporäre Demenz, die er durch sein Hirntrauma erlitten hatte, mutierte in den Tagen und Wochen seiner Anwesenheit im Keller zu einer ausgewachsenen Psychose. Wahnhaft und von tiefsten Depressionen geprägt, vegetierte er in den Tag hinein. Die Substanz in dem Wasser tat ihr Übriges, um seinen geistigen Zustand noch zu verschlimmern. Er begann in den wenigen Stunden, in denen er nicht schlief, seine fehlende Erinnerung durch Fantasie-Szenen zu ersetzen.. In Ermangelung äußerer Reize schuf er sich eine eigene, völlig abstrakte Welt. Platzende Geschenke, Mondgesichter und Fleischwurst. Das Geräusch der Kette, dieses matte Klimpern, spielte stets eine Rolle, denn es war das einzige Geräusch, das immer präsent war. Bei jeder noch so kleinen Bewegung erzeugte die Kette dieses Geräusch. Er sprach stundenlang mit sich selbst. Nicht zitierfähiges, wirres Zeug von buntem Papier, kreischenden Katzen, der Kette und dem Brot. Der Pfützen und Kothaufen. Einmal war er aufgewacht und vernahm ein neues, aufregendes Geräusch. Ein Summen. Periodisch an- und abschwellend. Dann kurze Pausen und wieder das Summen. Mal hier, mal dort. Es war dunkel. Plötzlich, völlig unerwartet, eine Berührung in seinem Gesicht. Er erschrak, und die Berührung war zu Ende. Als er das nächste Mal im Gesicht berührt wurde, zwang er sich, still liegen zu bleiben, und er konnte fühlen, wie der Reiz, der seine Gefühlsnerven so zum Vibrieren brachte, in seinem Gesicht umherwanderte. Manchmal verharrte er an einer Stelle, seinem Mundwinkel oder unterhalb seiner Nase. Dann war das Gefühl so intensiv, dass er es nicht ertragen konnte und er sich bewegte. Sofort war der Reiz fort und verwandelte sich in dieses Summen.