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DDr. Riemer sprach frei und nach allen Regeln der Kunst. Das heißt nach den Regeln der Rhetorik, die sie zweifellos beherrschte. Sie benötigte keinen Spickzettel, artikulierte klar und deutlich, ihre Stimme kippte nie und sie verstand es, mimisch zwischen ernstseriös und lächelnd-vereinnahmend zu changieren. Ihre Gesten unterstützten das Gesagte, ohne zu übertreiben, und die Pausen setzte sie geschult an der richtigen Stelle. Perfekt, ohne Frage, ein seltener Fall von femininer Selbstsicherheit und Bühnenpräsenz. Aber irgendetwas begann bei Frieda Widerstand zu erregen. Sie blickte zu Leopold hinüber, der sein allzeit bereites Notizbuch, das sie ihm letzte Weihnachten geschenkt hatte, aufgeklappt auf dem Schoß liegen hatte. Offenbar hatte er sich bisher noch kein Wort notiert und blickte unverwandt in Richtung Podium. Ob die Schönheit der Referentin ihn so ablenkte, dass er aufs Mitschreiben verzichtete? Als die doppelte Doktorin davon berichtete, ihre jeweiligen Krebspatientinnen gleich zu Beginn der gemeinsamen philosophischen Diskurse mit der Frage Wofür leben Sie? zu konfrontieren, begannen sich bei Frieda die Haare aufzustellen. Und was machst du, wenn eine deiner Patientinnen dir diese Frage zurückgibt? Oder wenn eine doppelt so alte wie du, mit dem Tod Ringende dich verzweifelt anschaut? Zuckst du dann vielleicht doch ein klein bisschen zusammen, wischst du dir die blonde Mähne dann nicht mehr ganz so kokett aus der Stirn?

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