Читать книгу Mitternachtsnotar. Berlin-Krimi онлайн
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In seinem Traum sitzt er in einem riesigen leeren Kinosaal. Es gibt nur einen einzigen Sessel, und das ist der Sessel, auf dem er sitzt. Der Sessel steht weit vorne, direkt vor der Leinwand. Er möchte aufstehen und wegrennen, aber er kann nicht. Man hat ihn festgeschnallt, den Hals an die Rückenlehne, die Hände an die Armlehnen, die Füße an die Sesselbeine. Sein Kopf ist mit einem Stahlgestell fixiert, wie bei einem Versuchstier.
Sie wohnen damals noch in einem anderen Haus, nur ein paar Straßen von hier. Es ist ein Spätnachmittag im April 1984, früh im Jahr und doch zu spät. Endlich ist er gekommen, der Abend seiner Mutter. Sanders stellt sich das so vor, dass Veronika Sanders keinen Plan hat, es ist nur ein Versuch, ein Selbstversuch. Seine Mutter weiß, wo die Autoschlüssel sind, gefahren ist sie seit ein paar Jahren nicht mehr, sie darf ja, sie kann fahren, sie hätte üben können, aber dann ist er plötzlich da: der Abend des vielzuvielsten Tages.
Veronika Sanders erscheint ihrem Sohn in der dunkelgrauen Schleiflacktäfelung der Bibliothek wie die Weiße Frau. Es riecht nach Pronto und Pelargonien, zu ihren Flamingolippen trägt die Mutter einen beigen Yves-Saint-Laurent-Anzug und goldene Schuhe. Ihre Wimpern flattern wie schwarze Schmetterlinge, ihre vanilleblonden Locken fallen über die Nadelstreifen wie Softeis, so wie es sein soll, eine Mischung aus Paris Match und Die Moderne Hausfrau. Aber der dunkle Schleiflackspiegel zeigt die wahre Veronika, eine verlorene, schreckliche Königin mit schwarzen Adern unter der Pergamenthaut. Sie hat zu viel gelesen, sie stellt das Buch zurück, es ist das Buch des Vaters: Obscurum per Obscurius, ein Zauberbuch, das Veronika unsichtbar macht. Die Mutter wischt mit dem Jackenärmel die Fingerabdrücke vom Regal, zum letzten Mal. Ordnung ist dem Vater wichtig, auch hier in der Bibliothek, einem kalten Nierentischraum, der auf den Garten hinausgeht. Dort blühen rechter Hand die Fliederbüsche des Vaters und linker Hand die Forsythien des Vaters, dahinter färbt das Abendrot den Horizont, der niemandem gehört – niemandem oder allen, auch Martin Sanders’ Mutter. Er glaubt, dass sie den Horizont wiederhaben wollte an diesem Tag, sie wird ihn sich nehmen, ihre Haut soll wieder dick sein, sie soll wieder sichtbar werden.