Читать книгу Am Tag, als Walter Ulbricht starb. Roman онлайн
60 страница из 69
Die Ausrede mit dem Arztbesuch hatte sich jedoch bis jetzt stets als erfolgreich erwiesen. Irgendeine Urlauberfamilie fand sich immer, die den umgänglichen alten Mann im Auto mit nach Bergen nahm, was ihm den beschwerlichen Weg mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle und von dort mit dem häufig überfüllten Linienbus ersparte. Das Fahrgeld durfte er trotzdem abrechnen. So kam eins zum anderen, und sein Konto sah gar nicht mal schlecht aus – jedenfalls nicht so schlecht wie das Warenangebot im Landwarenhaus. Jetzt sollte es sogar ausländische Buntfernseher geben, aber natürlich nicht hier oben im hohen Norden. Mal sehen, was sich da machen ließ. Im Sommer kam er ja kaum zum Fernsehen, da saß er abends mit den Feriengästen vor dem Heim, das deren Betrieb ausgebaut hatte, und schwatzte ein bisschen. Zu trinken gab es reichlich, und verhungern ließen sie ihn auch nicht. Er war beinahe der einzige Einheimische weit und breit und gehörte quasi zur Folklore, wie mal einer festgestellt hatte.
Paul Barzow kannte das Wort nicht. Er lebte bescheiden in seinem Häuschen hinter dem Deich, kaum hundert Schritte von dem noblen Ferienheim entfernt und nur dreihundert von dem kleinen Campingplatz, auf dem sich jeden Sommer die gleichen Eingeweihten einfanden, denen es auf dem kargen Inselchen gefiel. Onkel Paul gehörte dazu, als wären sie alle eine Familie. Nur im Herbst, wenn der Nordwest in Böen über die flache Landschaft fegte, und in den langen Wintermonaten bis März oder April wurde es ein bisschen einsam, da kamen einem der wärmende Grog und vielleicht so ein Buntfernseher gerade recht. Wichtig war nur, dass man damit den richtigen Kanal in Farbe sehen konnte. Mit dem richtigen meinte Paul natürlich den falschen, aber darüber sprach er mit niemandem, obwohl er sonst ganz gerne redete. Die Urlauber hörten ihm zu, wenn er von früher erzählte, vom schweren Leben der Fischer und von der Lastenseglerei, die sein Vater noch betrieben hatte. Damals hatte es noch keinen Rügendamm und kaum Straßen auf der ganzen Insel gegeben. Und viel weniger Feriengäste. Hierher, auf das abgelegene Eiland im Bodden, war überhaupt kein Fremder gekommen.