Читать книгу Wu. Ein Deutscher bei den Meistern in China онлайн
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Allerdings nahm ich durch das Leben im Reich der Mitte und den täglichen Umgang mit Chinesen immer mehr die chinesische Denkweise an und entwickelte zunehmendes Verständnis für die Vielschichtigkeit der chinesischen Kultur. So akzeptierte ich nach und nach wortlos auch Sachen, die ich als falsch empfand. Ein Beispiel: Meister Li ist ein leidenschaftlicher Majiang33-Spieler. Spielt er mit seinen Freunden, vergisst er darüber alle Abmachungen und Versprechungen. In Europa wäre ein solches Verhalten gänzlich inakzeptabel, aber in China wird sich ein Meister nicht einmal dafür rechtfertigen.
Diese Sicht der Dinge hängt mit der Lehre des Kongzi (Konfuzius)34 zusammen. Alle Lebensbereiche sind hierarchisch gegliedert und folgen bis heute den Gesetzen dieser etwa 2 500jährigen Philosophie. Schüler gehorchen ihren Lehrern aufs Wort, die Jungen respektieren die Alten, und die Alten kümmern sich um die Jungen. Im Chinesischen gibt es das Schriftzeichen xiao (孝), das soviel wie Kindespflicht bedeutet. In der chinesischen Gesellschaft sagt man: »Mit einem Menschen, der kein xiao hat, sollte man keine Freundschaft schließen, weil das Wesen dieses Menschen schlecht ist.« Es ist in vielen Teilen des Landes immer noch undenkbar, dass eine Familie die Eltern bzw. Großeltern in einem Altenheim unterbringt, wie gut dieses Heim auch sein möge. Der gesellschaftliche Druck wäre groß und würde sich vielleicht sogar in öffentlichen Beschimpfungen ausdrücken. Die Familie würde verachtet und gemieden werden, selbst wenn sie einfach zu arm wäre, um die Eltern betreuen zu können. Einen solchen Vorfall erlebte ich in meiner Wuhaner Nachbarschaft. Ein Mann schaffte es aus zeitlichen Gründen nicht mehr, sich um seine Mutter zu kümmern. Er brachte sie in einem guten Pflegeheim unter. Von Stund an hatte er unter den uralten konfuzianischen Vorstellungen von Pietät und Sohnespflicht zu leiden. Im wushu verstärkt sich das ganze noch. Ein Schüler wird von der Gesellschaft nicht danach beurteilt, wie gut er ist, sondern wie gut er seinen Lehrer behandelt und sich um ihn kümmert. Während der aus der westlichen Kultur stammende Aristoteles sagte: »Ich liebe meine Lehrer, aber noch mehr liebe ich die Wahrheit«, gilt in China eher: »Der Lehrer hat immer recht, auch wenn er nicht recht hat.«