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Die Vorräte im Rucksack gingen zur Neige und trotz der Enthaltsamkeit beim Trinken verspürte er einen immer stärkeren Harndrang. Sich hier zu erleichtern war ausgeschlossen, er würde sein genetisches Material gleich deziliterweise hinterlassen.

Resigniert kroch er wieder durch das Rohr und verließ das Kanalsystem, um sich zu erleichtern. Die neue Nacht war angenehm warm, jedenfalls hier oben, und die Grillen gaben ihr Konzert in der Ferne. Er beschloss, nachdem er seine Notdurft verrichtet hatte, seine Sachen aus dem Schacht zu holen und die Aktion abzubrechen. Es sollte offensichtlich nicht sein. Er konnte nicht noch länger in dem engen Kanal sitzen und auf sein Opfer warten. Das würde er nicht aushalten. Die Schwachstelle in seinem ansonsten grandiosen Plan war er selber. Er hatte nicht gedacht, dass er schon nach weniger als zwanzig Stunden so weit war. Bei der Planung hatte er sich noch vier oder mehr Tage zugetraut. Enttäuscht ging er in Richtung des geöffneten Kanaldeckels, als plötzlich Scheinwerfer zu erkennen waren. Grothner kehrte zurück. Sofort wurde Kleinhans Körper von Adrenalin durchflutet, das innerhalb des Bruchteils einer Sekunde seine Zweifel davonspülte. Schnell warf er sich hinter eine Buschgruppe, um nicht von den Scheinwerfern der beiden Fahrzeuge erfasst zu werden. Nachdem die kleine Wagenkolonne ihn passiert hatte, stieg er rasch wieder in das Kanalrohr, schloss den Deckel und kroch so schnell er konnte zu seinem Lager zurück. Marius Kleinhans glaubte nicht, dass den Insassen der beiden Fahrzeuge der verschobene Gullydeckel aufgefallen war, und wenn doch, konnte er es jetzt nicht mehr ändern. Er wollte den richtigen Moment abpassen, möglichst unmittelbar, nachdem der Range Rover zum Stehen gekommen war, denn dann würde im Inneren des Autos noch die größte Unruhe herrschen. Der Karabinerhaken und die ersten dreißig Zentimeter der zwanzig Meter langen Stahltrosse waren von ihm mit Isolierband ummantelt worden, damit es keine oder nur wenige Geräusche gab. Er nahm den Karabinerhaken und befestigte ihn an seinem Gürtel, stieg dann die Leiter hinauf und blickte durch die runden Löcher des Kanaldeckels. Tatsächlich stand der Wagen direkt über ihm. Ohne lange zu überlegen drückte Kleinhans den Deckel nach oben und schob ihn langsam und möglichst leise so weit zur Seite, dass der Kanal halb geöffnet war. Er lauschte, doch es erfolgte keine Reaktion auf seine Aktivität. Den Bodyguards über ihm in ihrem schweren Geländewagen würde schon früh genug auffallen, dass er hier war, dachte er grimmig. Kleinhans war erstaunt, wieviel Raum zwischen der Fahrbahndecke und der Unterseite des Geländewagens bestand. Dieser Umstand erleichterte sein Vorhaben und vorsichtig schob er sich unter das Auto. Es gelang ihm, den Karabiner um die vordere rechte Radaufhängung zu legen und ihn dann zweimal um die Traverse zu wickeln, an der das rechte Vorderrad befestigt war, bevor er den Karabinerhaken an der Stahltrosse einrasten ließ. Das war nach seiner Einschätzung die schwierigste Phase in seinem Plan. Er kroch in den Gully zurück und schob den Deckel wieder über die Öffnung. Das Stahlseil verhinderte, dass sich der Deckel wieder komplett einfügte, aber das spielte keine Rolle. Der heraufschnellende Gullydeckel würde den Schaden an dem Fahrzeug vergrößern, wenn es anfuhr. Auf dem Grund des waagerechten Kanals überprüfte er den Sitz des Stahlseils an der massiven Eisenstange, die er so platziert hatte, dass sie als Anker fungieren würde, wenn das sich spannende Seil sie empor riss. Mit der Taschenlampe kontrollierte er seine Arbeit und suchte jeden Zentimeter ab, um auszuschließen, dass er irgendetwas versehentlich liegengelassen hatte. Morgen würden Ermittler und Forensiker hier herumkriechen und nach irgendeinem Hinweis auf den oder die Täter suchen. Nach zwanzig Minuten verließ er den engen Kanal und lief zu dem Renault, der versteckt in dem Wald stand, der das Grundstück Grothners umrahmte. Die Stunden in dem engen Rohr hatten ihren Tribut gefordert. Ihm tat jeder Muskel und jeder Knochen weh, doch die Bewegung jetzt ließ den Schmerz schnell vergehen. Allerdings hatte er nun wieder ein gutes Gefühl, was seinen Plan anging. Karl Grothner würde morgen seine Geisel sein. Er würde im Keller des ehemaligen Pförtnerhauses in der Industriebrache der alten »Buttwanger« Fabrik am Stadtrand liegen, ein Ort, der so verlassen war, wie man es sich als Entführer nur wünschen konnte. Um acht Uhr würde Grothner noch guter Dinge sein. Um acht Uhr und fünfzehn Minuten würde sich das zu einhundert Prozent geändert haben, dessen war sich Marius Kleinhans sicher.

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