Читать книгу Unschuldsengel. Kappes neunter Fall. Kriminalroman (Es geschah in Berlin 1926) онлайн
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«Kann ja nicht jeder so ’n halbes Hemde sein wie du, lieber Hermann. Obwohl du ooch zujeleecht hast, wenn ick mir die Bemerkung ma erlauben darf.»
Kappe blickte an sich herunter und musste zugeben, dass sein Kollege recht hatte. Das Hemd spannte ein wenig, und über den Hosenbund hatte sich ein kleines Speckröllchen gewölbt. Das muss der Zufriedenheitsspeck sein, dachte er. Während der Zeit seiner außerehelichen Liebesabenteuer hatte er oftmals keinen Bissen herunterbringen können. Aber nachdem Klara und er sich versöhnt hatten, schmeckte ihm die Blutwurst wieder. «Nun ja, die schlechten Zeiten sind vorbei», sagte Kappe und ließ offen, was er damit gemeint hatte.
Mai 1909
Unter der Küchenbank ist er unsichtbar. Wenn Vater in dieser Stimmung war, begegnete er ihm besser nicht. Mutter schlug auch zu, wenn er sich einen Fleck auf das Hemd gemacht oder nicht aufgegessen hatte. Dann flog er einmal durch den Raum, aber das war es dann auch schon. Vater aber steigerte sich stets in blinde Wut hinein, schlug und schlug und schlug, egal, wo er traf, egal, mit was. Oft konnte er dann tagelang nicht in die Schule gehen wegen der vielen blauen Flecke. Mal war auch die Lippe aufgeplatzt, und einmal hatte er tagelang Kopfschmerzen, nachdem der Vater ihn mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert hatte. Manchmal wunderte er sich, dass noch keiner der Nachbarn die Polizei verständigt hatte. Die Leute im Haus wussten, was bei ihnen passierte. Er hatte sie darüber reden hören, und sie sahen ihn immer so mitleidig an. Mutter musste heute das falsche Essen gekocht haben, denn Vater ging sofort auf sie los, kaum dass er hungrig aus der Kneipe gekommen war. Jetzt liegt sie am Boden. Vater schlägt und tritt sie. Er würgt sie mit ihrem rosafarbenen Schal, den sie immer trägt, weil ihr so leicht kalt am Hals wird, und der zu ihr gehört wie ihre blauen Augen. Der Blick, den sie ihm stumm unter die Küchenbank schickt, fleht, dass er Hilfe holen möge. Doch er rührt sich nicht. Die Mutter schreit nun. Er kann nicht sehen, was der Vater oben tut, doch dann saust ein Stuhl auf ihren Schädel hinunter. Wieder und wieder. Als sie sich nicht mehr rührt, holt sich der Vater ein Bier und setzt sich auf die Küchenbank. Er wagt kaum zu atmen, bis Vater Stunden später zu Bett geht.