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Doktor Mertens wischte die Gedanken an die bevorstehende Nachuntersuchung beiseite, zwang sich, konzentriert zu arbeiten. Jetzt war erst einmal diese Tote an der Reihe. Leichnam Nummer zwanzig. Er lag nackt in einem geöffneten Sarg – wie die anderen 19, die er bereits zuvor akribisch in Augenschein genommen hatte. Bernie Krause, ein Mitarbeiter des Krematoriums, ging ihm heute zur Hand. Der Mann mit der roten Knollennase und den kräftigen Bauarbeiter-Händen drehte die Toten auf die Seite und auf den Bauch, wenn der Gerichtsmediziner ihn darum bat. Krause war Ende vierzig, von kräftiger Statur – und kein Freund von Nebensätzen. Er hatte sich im Laufe der Zeit an den Anblick von toten Menschen, an die seltsamen Schmatz- und Zischlaute der sogenannten Fäulnisleichen und an den üblen Geruch, den sie verbreiteten, gewöhnt.
Der Rechtsmediziner warf einen kurzen Blick auf den Totenschein. Seine wachen Augen erfassten innerhalb weniger Sekunden die für ihn wichtigen Daten: „Name: Heide-Marie Roth, Alter: 69, Todesursache: Verdacht auf Herzinfarkt. Am 27. Januar 2020 um 21.35 Uhr leblos zu Hause aufgefunden.“ Viel mehr wusste Doktor Mertens nicht über die Verstorbene, die von ihm für die Feuerbestattung freigegeben werden sollte. Viel mehr musste er auch nicht wissen. Das, was ihn interessierte, musste er selbst bei der Leichenschau herausfinden. Die Seniorin dürfte schon vor mehr als zwei Wochen gestorben sein. Darauf deutete der fortgeschrittene Verwesungszustand hin. Die Bauchdecke war gebläht und hatte sich grün verfärbt. Die nässende Haut sah marmoriert aus und war mit Bläschen übersät. Typische Anzeichen für eine Fäulnisleiche. Bernie Krause verzog sein Gesicht. „Alter Schwede ... Gut, dass nicht alle Leichen so heftig riechen ...“, sagte der Helfer. Doktor Mertens nickte. „Ja, Herr Krause. Das stimmt wohl. Aber auch diese Tote verdient es, dass wir ganz genau hinschauen und den toten Körper respektvoll behandeln.“ Bernie Krause nickte. Er beeilte sich, Zustimmung zu signalisieren. „Logisch, Herr Doktor. Ich meinte ja auch nur ... Sorry, das sollte nicht ... das war nicht despektierlich gemeint. Nicht, dass Sie das in den falschen Hals kriegen ...“ Der Rechtsmediziner schaute Krause in die Augen. Dabei lächelte er. „Keine Sorge, Herr Krause. Das habe ich schon richtig verstanden. Ich empfinde diesen stechenden und zugleich süßlichen Ammoniak-Geruch ja auch als unschön.“ Mertens, der wie im Sektionssaal der Rechtsmedizin Mundschutz, Kittel und Gummihandschuhe trug, drückte mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand auf den seltsam verfärbten Bauch der Toten. Bernie Krause räusperte sich: „Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen, Herr Doktor?“ Mertens, der sich über den Holzsarg gebeugt hatte, richtete sich auf und unterbrach die Inaugenscheinnahme der Toten. „Na klar. Die erste Frage haben Sie ja schon gestellt. Wie lautet die zweite?“ Krause war irritiert. „Äh, die zweite Frage ...?“