Читать книгу Unschuldsengel. Kappes neunter Fall. Kriminalroman (Es geschah in Berlin 1926) онлайн
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Viel hatte sie von zu Hause nicht mitnehmen können. Ihren Eltern hatte ja nicht auffallen sollen, dass sie länger wegbleiben würde. Und doch wurde der Koffer in ihrer Hand schwerer und schwerer. Immer häufiger wechselte sie ihn von einer Seite zur anderen, bis sie auf der Weidendammer Brücke schließlich haltmachte und sich schwer atmend an das Geländer lehnte. Unter ihr glitzerte die Spree. Ihr Traum war in Erfüllung gegangen.
Wann immer ihre Schwestern Käthe und Gertrud eingeschlafen oder aus dem Zimmer gegangen waren, hatte sie sich ausgemalt, wie es wohl wäre, aus dem kleinen Nest in die große Stadt zu gehen. Und nun war sie endlich in Berlin. Zum ersten Mal, seit ihre Familie damals hierher gefahren war, um Unter den Linden dem Kaiser zuzuwinken. Die Jungen hatte man in ihre guten Anzüge gesteckt. Den Mädchen hatte die Mutter die weißen Sonntagskleider angezogen und ihnen große weiße Schleifen ins Haar gebunden, die die Brüder respektlos «Propeller» nannten. Bei jedem Schritt hatten die Schleifen gewippt. Mina hatte das Gefühl gemocht. Sie war als Kind zwar ein Wildfang gewesen, aber mit Kleid und Schleife hatte sie sich bei dieser Parade als etwas Besonderes gefühlt. Ihre Schwestern hatten ähnliche Kleider und Bänder im Haar, aber ihre eigenen Sachen waren am schönsten. Das konnte man auch genau auf dem Familienphoto erkennen. Vor der Parade, als die Kleider noch blütenweiß waren und der Kopfschmuck noch gerade saß, hatte die Familie nämlich einen Termin beim Photographen gehabt. Jedes Kind hatte einen Abzug des Photos bekommen. Mina liebte dieses Bild. Es war das einzige, auf dem auch August dabei war. Der älteste Bruder war im Ersten Weltkrieg gefallen, als sie gerade elf Jahre alt war. Es tat Mina noch immer sehr weh, denn August hatte stets gesagt, Mina sei seine Lieblingsschwester. Er hatte ihr auch in schlechten Zeiten immer einen Extrakrümel Essen aufbewahrt, und wenn sie sich fürchtete, durfte sie nachts heimlich unter seine Bettdecke. Es war schlimm für sie, als er in den Krieg zog.