Читать книгу Der verborgene Dämon. Roman онлайн
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In Bangladesch war das Mündungsdelta von Ganges und Brahmaputra komplett überflutet. Dort grassierten überall Ruhr, Typhus und Cholera, die Krankenhäuser waren völlig überfüllt und konnten nicht mehr helfen. Abermillionen Menschen begaben sich auf die Flucht nach Norden und entlang der wenigen Fluchtrouten ereigneten sich Massenpaniken und gewalttätigen Auseinandersetzungen. In der Zwischenzeit fanden die Larven der Anophelesmücke in den schier unendlichen Weiten stehender Gewässer auf dem gesamten Subkontinent ideale Bedingungen vor. Myriaden der Blutsauger im ländlichen Raum, in den Slums der Großstädte, in Wohnungen und öffentlichen Gebäuden führten dazu, dass sich die Malaria epidemisch ausbreitete. Bangladesch war völlig überfordert, aber auch in Indien brach nun die Wirtschaft zusammen. Die landesweite Verteilung von Treibstoffen, Lebensmitteln und Medikamenten scheiterte an von Schlamm bedeckten Straßen, eingestürzten Brücken, unterspülten Eisenbahnlinien oder schlicht an fehlenden Hilfskräften. Organisationsstrukturen funktionierten nicht mehr, Industriebetriebe standen still. Viele Menschen gaben sich jetzt nur noch ihrem Karma hin und erwarteten demütig ihr Schicksal. In dieser ausweglosen Situation hat Indien seinen Nationalstolz zur Seite gelegt und in einem eindringlichen Appell an die Weltgemeinschaft um Hilfe ersucht. Die Führung Chinas bot an, Teile ihrer Landstreitkräfte zu entsenden, was man in Neu-Delhi allerdings dankend ablehnte. Die UN beschloss, eine sogenannte Geberkonferenz einzuberufen, auf der eine Unterstützung von etwas mehr als zwei Milliarden Dollar bewilligt wurde. Bis dieser eher symbolische Betrag aber zusammenkam und vor Ort zur Verfügung stand, sollte einige Zeit vergehen. Wer bis dahin einen Rest Lebensmut aufbrachte, begab sich auf den Weg nach Westindien in die Küstenregion des Bundesstaates Maharastra, denn hier – nördlich von Mumbai – sahen die Menschen ihre Chance, dem Chaos zu entkommen. Immer mehr versammelten sich und dann setzte der große Flüchtlingsstrom ein. Als wolle sich mit der letzten Kraft der Verzweiflung eine eigenständige Industrie entwickeln, wurden Wälder gerodet, Unmengen an Holz zur Küste gebracht und Boote über Boote gebaut. Hunderttausende zimmerten an ihrer Flucht nach Arabien. Der Landweg Richtung Iran war versperrt, da Pakistan, obwohl selbst vom Monsun betroffen, seine Grenze zum inzwischen wehrlosen Indien komplett abgeriegelt und sich dabei auch noch einiges Terrain einverleibt hatte. Also blieb nichts anderes übrig, als die mehr als tausendfünfhundert Kilometer bis nach Oman über das Arabische Meer in selbstgebauten Fischerbooten zu wagen. Und diesen Wahnsinnsversuch unternahmen viele, sehr viele. Finanziell großzügig von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt, bereitete sich auf der anderen Seite des Meeres das Sultanat Oman in einer beispiellosen Aktion auf diese Flüchtlingswelle vor. Logistisch perfekt ausgestattete Auffanglager an der Küste wurden errichtet und hunderte hochseetaugliche Schiffe für Rettungsaktionen gechartert. Eben waren noch schnell ein paar Verwaltungsvorschriften für die Ankömmlinge erlassen worden, und dann wähnte man sich gerüstet. Vielleicht stand hauptsächlich der Wunsch nach mehr billigen Arbeitskräften aus dem Ausland dahinter, vielleicht trugen diese Bemühungen aber auch tatsächlich humanitären Charakter. Saudi-Arabien jedenfalls sah die Entwicklung mit wachsender Besorgnis und konsultierte zunächst seinen Verbündeten, die USA. Derweil ging in Indien die Katastrophe immer weiter. Entsetzliche Bilder schockierten die Welt. Vor den Kameras verzweifelter und hilfloser Berichterstatter raffte der Tod die Menschen dahin und trotz der nunmehr zögerlich einsetzenden internationalen Hilfe wollte das Sterben nicht aufhören. Eine mediale Sturmflut überrollte den Globus und brachte das alltägliche Leben aus der Fasson. Proteste wurden laut, wichtige Menschen oder solche, die sich für wichtig hielten, meldeten sich über Monate auf den weltweiten Fernsehkanälen mit Aufrufen, Kritiken oder Kommentaren zu Wort. Warum wird nur so zögerlich geholfen? Wo bleiben die großen Militärmächte? Wo bleibt der menschliche Zusammenhalt? Noch ein halbes Jahr später, als das Wasser wieder gegangen war und Indien den Tod von mehr als achtzig Millionen Menschen und den kompletten wirtschaftlichen Zusammenbruch konstatieren musste, ereiferten sich die ungeschoren Gebliebenen in scheinheiligen gegenseitigen Vorwürfen, zu wenig unternommen zu haben. Selbst Zyniker erhielten Applaus für ihre menschenverachtende Aussage, dass die indische Bevölkerung ja nicht einmal um ein Zehntel dezimiert sei. Und schon gaben sich die ersten hochkarätigen Wirtschaftsdelegationen verschiedener Staaten in dem geschundenen Land die Klinken in die Hand – schneller als zuvor irgendeine Hilfe eingetroffen war. Aber eine öffentliche Diskussion darüber, was diese Naturkatastrophe verursacht hatte und wie man Vergleichbares in Zukunft würde verhindern können, fand kaum statt – und wenn, dann unter Experten und nur hinter vorgehaltener Hand. Man versuchte, wo immer möglich, das gesellschaftliche Leben in Gang zu bringen. Der Monsun des Folgesommers fiel wieder einigermaßen regulär aus, doch Indien und Bangladesch waren in die Steinzeit zurückgespült und durch die gewährten Wiederaufbaukredite in die vollständige politische Abhängigkeit gerutscht.