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Tief geschockt von dieser Gnadenlosigkeit menschlichen Handels stellte ich mir die Frage: Auf welche Gewalt kann man verzichten, wie viel Hilfe kann man leisten, um dennoch die Zahl der außerhalb Afrikas neu infizierten Menschen in einer beherrschbar kleinen Größenordnung zu halten? Dies fragte ich einmal in der Unterrichtspause unseren Politiklehrer, der in seiner väterlichen Art antwortete, ich solle nicht so viel grübeln. In zugespitzten Situationen seien oft extreme Handlungsweisen notwendig, meine Fragestellung hingegen wäre nur in der Entstehungsphase einer solchen Situation zulässig. Ob denn dann der vollständige Verzicht auf jegliche Gewalt eine Lösung sei, fragte ich unbefriedigt nach. Möglich. Aber nur, wenn alle dem Prinzip folgten! Doch so eine Einstellung erschwerte mir den uns jungen Männern nach dem Abitur bevorstehenden Wehrdienst nur. Innerer Pazifismus biete keine Hilfe bei der Bewältigung unsinniger Herausforderungen. Ich sprach oft mit Vater über dieses Thema und er gab mir den Rat, mich – wenn dies gelänge – für den Bereich Cyberwar-Abwehr einteilen zu lassen. Das wäre bei meinen Computerkenntnissen und schulischen Leistungen erreichbar. Ich würde Einiges dazu lernen und müsste zumindest nach der Grundausbildung nicht nur „herumballern“. Eine solche Argumentation fand ich überzeugend und umso höher war ich motiviert, das bevorstehende Abitur möglichst mit der Note eins abzuschließen. Das allerdings war schon eine Herausforderung, obwohl alle Schüler bestimmte Prüfungen auswählen und so ihre Stärken in den Vordergrund stellen konnten. Ich entschied mich für Physik, Mathematik und Biologie – meine Lieblingsfächer. Trotzdem spürten wir alle eine riesige Anspannung vor den schriftlichen und mündlichen Prüfungen, aber als diese hinter uns lagen, war die Erleichterung umso größer. Ich hatte mit einem Durchschnitt von 1,2 mein Ziel nur knapp verfehlt und nun fühlten wir uns wie die gemachten Leute: Was kostet die Welt? Nichts – sie gehört uns! Was möchten Sie bitte studieren? Kein Problem. Sie wollen promovieren? Selbstverständlich! Nichts schien unmöglich – bis der Brief aus grauem Behördenpapier mir die Einberufung bescherte. Na ja, war ja absehbar gewesen und ich erinnerte mich zum Musterungstermin an Vaters Rat, mich auf die Abwehr von Cyberwar-Attacken aus dem Ausland zu bewerben. Das hat man bewilligt und nach einer Eignungsprüfung und einem Sicherheitscheck wurde ich 2033 nach Potsdam beordert. Dieser Ortswechsel war schon ein gewaltiger Einschnitt und ich sagte mir: Jetzt bist du erwachsen, Leon! Das bedeutete nicht weniger, als das Zimmer meiner Kindheit und Jugend zu verlassen, in eine fremde Stadt zu gehen, bei kasernierter Unterbringung im rollenden Vier-Schicht-System zu schuften und mich auf Anhieb mit wildfremden Menschen auseinandersetzen und verstehen zu müssen. Nach der Grundausbildung, die freilich für jede Waffengattung die gleiche war und sich in weiten Teilen darauf beschränkte, im Untergehölz deutscher Heide- und Waldgebiete die sich immer weiter ausbreitende Ambrosia-Pflanze zu jäten, bekam ich zusammen mit den anderen Neuen nach einer entsprechenden Geheimhaltungsverpflichtung die ersten Einweisungen in die Thematik der elektronischen Kriegsführung. Mit meinen Vorkenntnissen hatte ich zwar eine solide Basis, aber in den fachlichen Details erfuhr ich viel Neues und überaus Interessantes. Die Technik, die uns zur Verfügung stand, hatte ich so nie zuvor gesehen. Unglaublich – wenn die Leute draußen auf der Straße wüssten, was und wie man alles überwachen kann, welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen! Einerseits bestand die Aufgabe in der Beobachtung des übrig gebliebenen freien Teils des Internets. Andererseits waren wir gehalten, vor allem Cyberangriffe aus dem russisch kontrollierten SPF-Netz zu erkennen und zu blockieren. Das Abgreifen von Datenströmen ist dabei vergleichbar mit der Erhebung medizinischer Informationen für eine Diagnose. Aber zu wissen, welche Krankheit man hat, reicht nicht. Die Therapie ist das Ziel, im militärischen Sinn also sowohl die Abwehr von Angriffen als auch die Durchführung von aktiver Gegenwehr. Und da habe ich manchmal nicht schlecht gestaunt, mit welchen teilweise abartigen Mitteln und Methoden wir umgehen mussten. Aber Vater hatte Recht. Auf diese Weise noch etwas dazuzulernen, ist allemal besser, als bei miserablem Wetter auf dem Gefechtsfeld herumzuballern und ständig mit der Überlegung konfrontiert zu sein, ob ich als Soldat nun ein Mörder bin oder - weil es der Staat befohlen hat - legitimiert Menschen töten darf oder muss. Doch auch die elektronische Kriegsführung warf genügend grundlegende Fragen auf. Wenn ich vor dem Monitor reale Drohnen steuere, wie in einem Computerspiel, dann reicht ein Mausklick, um im tatsächlichen Kampfgebiet die Rakete abzufeuern. Bin ich dann kein Mörder? Ich bekam mit, wie in Deutschland Infrastrukturen der Strom- und Wasserversorgung angegriffen und Flugzeuge gehackt wurden. Mehrfach hätten Unbekannte beinahe die Kontrolle über Passagierflugzeuge übernommen und sie ferngesteuert irgendwo hinlenken wollen. Ausländische Geheimdienste, die wir nicht immer identifizieren konnten, tummelten sich in den sozialen Medien und wiegelten die Leute gegeneinander auf, um Unfrieden zu stiften. Kein Staat traute dem anderen, auch wenn man nach außen vorgab, politisch zu kooperieren, oder sich zum Kreis irgendwelcher Verbündeter zählte. Schillers Idealismus ‚Alle Menschen werden Brüder‘ hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Zum ersten Mal im Leben wankte mein Weltbild des klassischen Humanismus, das die Eltern mir auf so vorbildliche Weise nahe gelegt hatte. Wie um alles in der Welt sollen Menschen, deren Kulturkreise oder Religionen sich nicht ansatzweise über den Weg trauen, gemeinsam die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen? Mir wurde langsam klar, warum vor fünf Jahren in Indien die Welt nur so zögerlich geholfen hat. Und ein weiterer Umstand gab mir in jener Zeit zu denken: Mit dem Austritt der USA aus der NATO unter Federführung der „Lichtsekte“ ergab sich eine andere Polarisierung der Großmächte auf dem Globus. Auf der einen Seite durften technische Hilfsmittel, die aus den USA stammten, plötzlich nicht mehr genutzt werden und auf der anderen Seite ließen unerwarteterweise gerade die amerikanischen Abhörversuche in Deutschland nach. Unser Kontinent Europa interessierte die USA einfach nicht mehr. Man war aufgrund des mittlerweile auf das Dreifache gestiegenen Ölpreises stattdessen in einen handfesten und mit allen Bandagen geführten Handelskrieg mit China verwickelt und wollte gleichzeitig seine Verpflichtungen gegenüber dem Verbündeten Saudi-Arabien nachkommen. Dieser hatte wegen der Flüchtlingsströme aus dem Oman nach Norden den Notstand ausgerufen und sein Militär in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Hilfe von der UNO war nicht mehr zu erwarten und es bestand nach wie vor die Absicht, sich vor der Ebola-Pandemie in Afrika schützen zu wollen. Aber genauere Informationen bekamen auch wir im Cyberwar-Abwehrzentrum nicht. Was jedoch durch die von uns über dem Nahen Osten ferngesteuerten unbemannten Drohnen heraus kam, war der Umstand, dass sowohl Euphrat und Tigris als auch der Jordan an ihren mittleren Flussläufen fast vollständig ausgetrocknet waren. Wir registrierten in einigen Abhöraktionen, dass man sich dort mit aller Kraft gegen das einsetzende Massensterben stemmte. Doch die Wiege der Menschheit schien zu verdursten. Meine Anschauung von der Welt begann sich so durch mehr und mehr ambivalente Gedanken zu differenzieren und nach diesem Jahr des Pflichtwehrdienstes fühlte ich mich merklich erleichtert und wie befreit, den Blick von jenen, sicherlich nur ansatzweise erlebten menschlichen Abgründen weg wieder nach vorn richten zu können. Ich will studieren! Aber welches Fach? Auch darüber hatte ich schon früher oft mit den Eltern diskutiert und Mutter meinte, dass nicht eine spezielle Fachrichtung das Beste wäre, sondern die Zukunft in bestimmten Fachkombinationen liege. Das fand ich auch, denn genau diese übergreifende Sichtweise war damals in der Schule bei unserem objektorientierten Unterricht das Ziel der Methoden- und Wissensvermittlung gewesen. Nach einigem Hin und Her entschied ich mich für die Biophysik. Na klar, die Königin der Wissenschaften, die Physik brauche ich überall. Zusammen mit Biologie eröffnete sie mir Möglichkeiten, meinem Hobby ‚Umwelt‘ weiter nachzugehen und vielleicht später auch, mich auf dem Gebiet der Bionik zu spezialisieren. Dort an der Schnittstelle zwischen Elektronik und Biologie, sind Physik, Medizin, Molekularbiologie und im besonderen Kreativität und Phantasie gefordert. Das wäre wirklich fachübergreifend. Gesagt, getan.

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