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Kapitel 6
Schneller als sonst üblich hatte sich Doktor Karl Mertens in einem mit Spinden gefüllten Nebenraum des Sektionssaals umgezogen und seinen steingrauen Lieblingsanzug gegen einen hellgrünen Kittel getauscht. Darüber trug der stellvertretende Leiter des Instituts für Rechtsmedizin eine schneeweiße Schürze aus hauchdünnem Kunststoff. Sie sollte seine Berufskleidung vor Blutspritzern und anderen unkontrolliert austretenden Körperflüssigkeiten schützen.
Um 8.45 Uhr betrat Mertens den Saal, der sich im Erdgeschoss des Gebäudes I6 befand. Er ließ die Glastür hinter sich ins Schloss fallen und verschaffte sich zunächst von seiner leicht erhöhten Position einen Überblick. Die rechte Hand lässig gegen die geflieste Wand gestützt, seine linke in die Hüfte gestemmt, ließ er seinen Blick über die drei Stufen tiefer liegenden fünf baugleichen, etwas klobig wirkenden Sektionstische aus poliertem Edelstahl schweifen. Mertens’ Pose erinnerte an einen Feldherrn, der versuchte, ein Schlachtfeld zu überblicken. In gewisser Weise stimmte das Bild – wenn auch im übertragenen Sinne. Im Sektionsraum wurde zwar nicht gestorben, aber hier lagen immerhin die sterblichen Überreste derjenigen, die in den vergangenen Tagen und Nächten möglicherweise durch fremde oder eigene Hand Opfer stumpfer oder scharfer Gewalt geworden waren. Die Toten hatten eines gemeinsam – sie warteten darauf, dass ihnen jemand ihr Geheimnis entlocken würde. Auf jedem Untersuchungstisch lag eine unbekleidete Leiche. Mertens zählte drei weibliche und zwei männliche Tote. Die Präparatoren hatten bereits aufgetischt. Den stechenden Geruch von Formalin, der sich an der kühlen Luft mit dem leicht süßlichen Gestank von faulendem Fleisch vermischte, nahm Doktor Mertens nicht wahr. Er betrachtete die Szene ein, zwei Minuten lang und stieß sich dann ruckartig von der kalten Wand ab. Na, dann mal frisch ans Werk, dachte der Leitende Oberarzt und klatschte dabei – lauter, als ihm lieb war – in die Hände.