Читать книгу Grenzgänge. Der 25. Kappe-Fall. Kriminalroman (Es geschah in Berlin 1958) онлайн
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Als Charlotte aus dem Bahnhof trat, galt ihr Blick zuerst der vertrauten Silhouette des Funkturms. Sie war niemals dort oben gewesen, nicht einmal im Restaurant. Anfangs hatte sie es sich immer wieder vorgenommen, aber Max riet ab. Später verboten die politischen Umstände solche Absichten. Nur von der anderen Straßenseite aus sah sie die Menschenmassen, darunter viel zu viele aus dem Osten, zur alljährlichen Industrieausstellung in die Messehallen strömen.
Sie wandte sich nach links und bog wie gewohnt in die Wundtstraße ein, an deren oberem Ende Elke wohnte. Hoffentlich begegnete ihr kein Bekannter von früher. Aber wer erinnerte sich nach sieben Jahren noch an eine unscheinbare ältere Frau, die hier zweimal am Tag vorbeigehastet war? Zu den Nachbarn, die dem Zonenrundfunk und seinen Mitarbeitern ohnehin misstrauten, hatte es kaum Kontakt gegeben. Elke hingegen war von Anfang an akzeptiert worden.
Bei dem Gedanken, die Tochter gleich in die Arme zu schließen, schlug ihr Herz schneller. Sie blieb stehen, atmete tief ein und schaute hinunter auf den Lietzensee. So idyllisch war ihr die Gegend damals gar nicht vorgekommen. Leute saßen auf den Bänken – Arbeitslose, wie sie vermutete –, Kinder spielten auf dem Rasen. In der wärmenden Maisonne wirkte alles so friedlich, dass sie plötzlich sicher war, alles würde gut ausgehen. Elke hatte sich bestimmt aus reiner Gedankenlosigkeit nicht gemeldet, obwohl das nicht ihrer Art entsprach. Wie die Mutter war sie eine umsichtige und zuverlässige Person, die auf Ordnung hielt. Schon in Moskau, in Taschkent und in Ufa am Ural war das so sorgfältig gekleidete, zierliche Kind mit dem Madonnengesicht jedermann aufgefallen. Immer wieder hatten Frauen versucht, Charlotte zum Tausch oder Verkauf abgelegter Kleidungsstücke zu überreden, nur war da nichts zu tauschen gewesen. Jeder Fetzen Stoff wurde gebraucht, damit ihre Elke nicht abgerissen herumlief wie die anderen Kinder.